Die jüngste Stellungnahme von Bundeskanzler Friedrich Merz zum militärischen Vorgehen Israels im Gazastreifen markiert einen bemerkenswerten rhetorischen Kurswechsel – und wirft gleichzeitig fundamentale Fragen nach politischer Aufrichtigkeit, moralischer Glaubwürdigkeit und strategischer Kommunikation auf.
Noch vor wenigen Tagen hatte Merz wie kaum ein anderer deutscher Regierungschef zuvor die „Staatsräson“ Deutschlands mit dem Existenzrecht Israels verknüpft – ein Begriff, der nicht nur historisch schwer aufgeladen, sondern auch politisch bindend ist. Doch nun äußert der Kanzler in ungewohnt scharfer Form Zweifel am israelischen Militärvorgehen. Er spricht von einem „nicht mehr nachvollziehbaren“ Ausmaß der Gewalt, von einer Strategie, deren Logik er „nicht mehr erkennen“ könne, und von einer Zivilbevölkerung, die über das Maß hinaus „in Mitleidenschaft gezogen“ werde.
Diese Wende verdient kritische Aufmerksamkeit. Denn sie wirft die Frage auf: Hat sich tatsächlich die Bewertung der Lage geändert – oder lediglich die politische Kalkulation?
Wenn ein Bundeskanzler öffentlich erklärt, das Vorgehen Israels entziehe sich seinem Verständnis, ist das nicht Ausdruck mangelnder Analysefähigkeit. Friedrich Merz ist kein außenpolitischer Laie, sondern ein rational agierender Regierungschef mit Zugriff auf umfassende diplomatische und sicherheitspolitische Informationen. Dass er die strategische Logik Israels – ob man sie teilt oder nicht – nicht versteht, ist kaum glaubwürdig. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass Merz bewusst eine Form der gespielten Naivität wählt. Nicht, weil er ratlos wäre, sondern weil diese Haltung ihm erlaubt, moralische Distanz herzustellen, ohne sich diplomatisch eindeutig zu positionieren.
Es ist der klassische Versuch, sich den Rücken freizuhalten: Sollte der internationale Druck auf Israel weiter steigen und sich die öffentliche Meinung in Deutschland – die ohnehin zunehmend kritisch auf den Nahostkonflikt blickt – weiter gegen das israelische Vorgehen wenden, kann der Kanzler sagen: Ich habe rechtzeitig gewarnt. Sollte hingegen Israel seine Ziele erreichen oder sich der Tonfall in der internationalen Arena wieder zugunsten Jerusalems drehen, bleibt das Bekenntnis zur „Staatsräson“ als Rückversicherung bestehen.
Diese Doppeldeutigkeit ist politisch klug, aber moralisch fragwürdig. Denn sie stellt den Anspruch, moralisch integer zu handeln, ohne den Mut aufzubringen, konkrete politische Konsequenzen zu ziehen. So bleibt offen, ob Deutschland weiterhin Waffen an Israel liefern wird. Auch eine Überprüfung des EU-Assoziierungsabkommens wird lediglich als Prüfgegenstand genannt – nicht als klarer politischer Hebel. Konsequenzen? Fehlanzeige. Die Bundesregierung kündigt lediglich an, man werde den Dialog mit Israel „intensivieren“ – ein Euphemismus für folgenlose Diplomatie.
Diese Ambivalenz ist nicht neu in der deutschen Außenpolitik, aber in ihrer Zuspitzung bemerkenswert. Sie zeigt, wie politisch instrumentalisiert moralische Rhetorik werden kann – nicht als Grundlage für Entscheidungen, sondern als Schutzschild für Nicht-Handeln. Der Kanzler appelliert an Menschlichkeit, während er die politischen Strukturen, die er selbst stützt, unangetastet lässt.
In der Konsequenz entsteht ein Bild politischer Verantwortung, das mehr mit Stimmungsmanagement als mit klarer Werteorientierung zu tun hat. Der moralische Zeigefinger wird erhoben, aber nie durch eine ausgestreckte Hand ersetzt, die etwas ändert. So wird aus Kritik an einem Bündnispartner kein Ausdruck souveräner Außenpolitik, sondern ein rhetorischer Balanceakt, der vor allem auf Absicherung abzielt – innenpolitisch wie international.
Eine Bundesregierung, die das Existenzrecht Israels zur Staatsräson erklärt, aber dann öffentlich Zweifel an der militärischen Verteidigung eben dieses Existenzrechts äußert, muss sich entscheiden: zwischen Prinzipientreue und opportunistischer Flexibilität. Merz tut beides – und letztlich nichts davon konsequent. Das lässt seine Kritik hohl wirken und seinen moralischen Anspruch zweifelhaft erscheinen.