Neuchâtel, 23. Oktober 2025 – Rund 15 Prozent der Schweizer Erwachsenen zwischen 16 und 65 Jahren – das entspricht etwa 844 000 Menschen – verfügen über unzureichende Fähigkeiten im Lesen, Rechnen und Problemlösen. Dies zeigt die neue Erhebung des Bundesamtes für Statistik (BFS) auf Basis der OECD-Studie PIAAC. Hinter der nüchternen Zahl steht ein gesellschaftlich und ökonomisch brisantes Problem: Die Schweiz droht, in ihrem Fundament an Humankapital zu erodieren.
Leistungsdefizite in einer Hochqualifikationsgesellschaft
Fast die Hälfte der Betroffenen hat keinen nachobligatorischen Bildungsabschluss, mehr als die Hälfte ist über 46 Jahre alt. Besonders problematisch: 38 Prozent sprechen eine Landessprache als Muttersprache – es handelt sich also nicht ausschliesslich um Fremdsprachige. Bildungs- und Kompetenzschwächen ziehen sich quer durch die Bevölkerung. Dass die Eltern dieser Personen im Schnitt seltener höhere Abschlüsse oder qualifizierte Berufe hatten, deutet auf einen deutlichen Einfluss der sozialen Herkunft hin – ein alarmierendes Zeichen für die Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems.
Wirtschaftlich aktive, aber strukturell benachteiligte Gruppe
71 Prozent der Personen mit geringen Kompetenzen sind zwar erwerbstätig, doch über 80 Prozent gehören zu den Einkommensschwächsten 40 Prozent. Sie arbeiten häufiger in körperlich belastenden Jobs, mit wenig Autonomie und geringer Arbeitsplatzsicherheit. Die Verbindung zwischen Bildung, Produktivität und Lohn zeigt sich hier exemplarisch: Fehlende Grundkompetenzen führen nicht nur zu individuellen Nachteilen, sondern bremsen auch das gesamtwirtschaftliche Potenzial.
Soziale Teilhabe unter Druck
Geringe Kompetenzen spiegeln sich nicht nur in der Lohntüte, sondern auch im Lebensgefühl. Wer weniger kann, lebt weniger gut: Nur drei Viertel dieser Gruppe sind mit ihrem Leben sehr zufrieden (gegenüber 86 Prozent in der Gesamtbevölkerung). Sie vertrauen seltener ihren Mitmenschen, engagieren sich weniger ehrenamtlich und sehen sich politisch weniger mitgestaltungsfähig. Die Bildungsfrage wird so zur Frage der gesellschaftlichen Integration und Stabilität.
Weiterbildung – aber für wen?
Während sich 61 Prozent der Gesamtbevölkerung in den letzten fünf Jahren weitergebildet haben, sind es bei Personen mit geringen Kompetenzen nur 33 Prozent. Auch die Motivation unterscheidet sich deutlich: Wer schwache Grundfertigkeiten hat, strebt Weiterbildung primär aus beruflichem Druck an – nicht aus intrinsischem Interesse. Das weist auf ein tieferliegendes Problem hin: Weiterbildung ist in der Schweiz zwar breit verfügbar, erreicht aber jene nicht, die sie am dringendsten benötigen.
Fazit: Eine stille Krise im Fundament der Schweizer Wissensökonomie
Die Schweiz lebt von Know-how, Effizienz und Innovationskraft. Wenn jedoch Hunderttausende Erwachsene nicht über die Grundkompetenzen verfügen, um in einer digitalisierten Wirtschaft mitzuhalten, ist das nicht nur ein soziales, sondern auch ein wirtschaftliches Problem. Geringe Grundbildung bedeutet geringere Produktivität, höhere Sozialkosten und wachsende Integrationsprobleme im Arbeitsmarkt. Die Daten des BFS sind ein Warnsignal: Ohne gezielte Investitionen in die Basisqualifikationen der Bevölkerung wird die Schweiz langfristig an Wettbewerbsfähigkeit verlieren.
