Ein Konflikt um den niederländischen Halbleiterhersteller Nexperia entwickelt sich zur Belastungsprobe für die gesamte europäische Automobilindustrie. Volkswagen steht im Fokus – und versucht, den Ernst der Lage kleinzureden.
Die jüngste Halbleiterkrise erreicht Deutschland mit voller Wucht. Auslöser ist ein diplomatisch-industrieller Konflikt, der in den Niederlanden begann und inzwischen die Produktionsbänder von Wolfsburg bis Stuttgart ins Wanken bringt. Der niederländische Chiphersteller Nexperia, seit Jahren zentraler Zulieferer für europäische Autobauer, steht im Zentrum geopolitischer Spannungen zwischen China, den USA und Europa.
Nachdem Den Haag die Kontrolle über Nexperia aus Sicherheitsgründen übernommen hatte, verhängte Peking Exportverbote für zentrale Chipkomponenten. Diese Teile sind entscheidend für die Weiterverarbeitung europäischer Halbleiter – und ohne sie droht die Lieferkette zu reißen.
VW zwischen Dementi und Realität
Besonders im Fokus steht Volkswagen. Mehrere Medien – darunter BILD, WELT und SPIEGEL – berichten übereinstimmend von geplanten Produktionsstopps und bevorstehender Kurzarbeit im Stammwerk Wolfsburg. Betroffen seien insbesondere die Modelle Golf und Tiguan.
Offiziell betont der Konzern, die vorübergehende Aussetzung der Fertigung sei Teil einer „geplanten Inventurmaßnahme“. Doch hinter vorgehaltener Hand ist von einer vorgezogenen Pause die Rede, um die schwindenden Chipbestände zu schonen. Die Kommunikation des Unternehmens wirkt widersprüchlich: Während VW öffentlich Gelassenheit signalisiert, bereiten sich offenbar mehrere Standorte auf längere Stillstände vor.
Branchenweite Sorge
Die Verbandsspitze des VDA warnt bereits vor einem Dominoeffekt. Präsidentin Hildegard Müller spricht von der Gefahr „erheblicher Produktionseinschränkungen bis hin zu Produktionsstopps“. Der europäische Dachverband ACEA ergänzt, dass die Lagerbestände vieler Hersteller nur noch für wenige Wochen ausreichen dürften.
Zwar erklärte Mercedes-Benz, man sei kurzfristig abgesichert, dennoch beobachte man die Situation „mit Sorge“. Auch BMW vermeidet konkrete Zusagen. Die Branche hat den Ausnahmezustand der Corona-Jahre noch nicht vergessen – und erlebt nun die Neuauflage einer alten Verwundbarkeit.
Geopolitik trifft Industriepolitik
Der Fall Nexperia offenbart in aller Schärfe, wie abhängig die europäische Industrie von asiatischen Wertschöpfungsketten geblieben ist. Während die USA Milliarden in eigene Chipkapazitäten investieren und China auf technologische Eigenständigkeit drängt, fehlt Europa eine kohärente Strategie.
Der EU Chips Act ist zwar beschlossen, doch bislang existieren kaum produktive Strukturen, die kurzfristig Abhilfe schaffen könnten. Die aktuelle Krise zeigt, dass Europas vielbeschworene „technologische Souveränität“ bisher vor allem ein politisches Schlagwort geblieben ist.
Hinzu kommt, dass der Mutterkonzern Wingtech seit 2024 auf der US-Sanktionsliste steht – was die internationale Lage zusätzlich verschärft. Damit wird die Versorgungslage nicht nur zum industriellen, sondern auch zum diplomatischen Problem.
Lehren aus der Krise
Dass einfache Halbleiter – keine Hochleistungschips, sondern massenhaft genutzte Bauteile – ganze Produktionslinien lahmlegen können, offenbart eine strukturelle Fehlkalkulation. Während Hersteller Milliarden in Elektromobilität und Software investieren, blieb die Basisversorgung mit Standardkomponenten vernachlässigt.
Die aktuelle Krise ist somit weniger ein unvorhersehbares Ereignis als das Resultat jahrelanger Vernachlässigung industrieller Eigenverantwortung. Statt Abhängigkeiten abzubauen, verlagerte die Industrie ihre Verwundbarkeit.
Es ist ein Weckruf – nicht nur für die Autobauer, sondern für die Wirtschaftspolitik insgesamt. Ohne europäische Kapazitäten in der Chipproduktion bleiben Begriffe wie „Resilienz“ und „Souveränität“ leere Formeln.
Fazit
Die Auseinandersetzung um Nexperia ist mehr als eine kurzfristige Lieferkrise. Sie ist ein Symptom eines tieferliegenden Strukturproblems: Europas Wohlstand hängt weiterhin an globalen Lieferketten, die es nicht kontrolliert.
Wenn Volkswagen seine Fertigung in Wolfsburg wirklich drosseln muss – ob aus „Inventurgründen“ oder Mangel an Bauteilen –, dann ist das nur das sichtbare Zeichen eines umfassenderen Kontrollverlustes. Die Frage ist nicht mehr, ob Europa unabhängiger werden muss, sondern ob es dazu überhaupt noch fähig ist.