Wirtschaftspolitische Analyse der 169. Steuerschätzung (Oktober 2025)

1. Einleitung

Die 169. Sitzung des Arbeitskreises „Steuerschätzungen“ vom 21. bis 23. Oktober 2025 markiert einen Wendepunkt in der deutschen Finanz- und Wirtschaftspolitik. Nach mehreren Jahren wirtschaftlicher Unsicherheit infolge geopolitischer Spannungen, Lieferkettenstörungen und einer schleppenden Binnenkonjunktur deutet die Herbstschätzung auf eine moderate Verbesserung der öffentlichen Einnahmen hin. Bundesfinanzminister Lars Klingbeil stellte die Ergebnisse unter das Motto „Was wir tun, wirkt“ und verwies auf den Erfolg des „Wachstumsboosters“, eines Maßnahmenpakets zur Belebung von Investitionen und zur Entlastung der Unternehmen. Die zentrale Herausforderung bleibt jedoch die strukturelle Konsolidierung der Staatsfinanzen ab Mitte des Jahrzehnts.

Ziel dieser Analyse ist es, die Ergebnisse der Steuerschätzung im gesamtwirtschaftlichen Kontext zu bewerten, ihre Ursachen und Implikationen für die Finanzpolitik des Bundes und der Länder zu untersuchen und eine kritische Einordnung der wirtschaftspolitischen Strategien der Bundesregierung vorzunehmen.

2. Datengrundlage und wirtschaftliche Rahmenbedingungen

Die Steuerschätzung basiert auf den gesamtwirtschaftlichen Eckwerten der Herbstprojektion 2025. Die Bundesregierung rechnet für das laufende Jahr mit einem realen BIP-Wachstum von lediglich 0,2 %, was einer Stagnation gleichkommt. Für 2026 und 2027 werden reale Zuwächse von 1,3 % bzw. 1,4 % prognostiziert. Nominal liegt das BIP-Wachstum hingegen bei 3,0 % (2025), 3,9 % (2026) und 3,7 % (2027), bedingt durch ein anhaltend hohes Preisniveau (BIP-Deflator). Die wichtigsten Treiber der Aufwärtskorrektur gegenüber der Frühjahrsprojektion sind höhere Bruttolöhne (+3,7 %) und steigende Unternehmens- und Vermögenseinkommen (+4,7 % ab 2026).

Die Binnenwirtschaft fungiert laut BMF als tragende Säule der konjunkturellen Stabilisierung, während die exportorientierte Industrie weiterhin unter globalen Unsicherheiten leidet. Hinzu kommen strukturelle Belastungen durch Energiepreise, Transformationskosten und den Fachkräftemangel. In dieser Lage gewinnen steuerpolitische Maßnahmen und staatliche Investitionsimpulse an Bedeutung.

3. Ergebnisse der 169. Steuerschätzung

3.1 Gesamtergebnisse

Für 2025 werden gesamtstaatliche Steuereinnahmen in Höhe von 990,7 Mrd. € erwartet – ein Plus von 11 Mrd. € gegenüber der Mai-Schätzung 2025. Bis 2030 sollen die Einnahmen auf 1.155 Mrd. € ansteigen. Die jährlichen Zuwachsraten bewegen sich zwischen 2,6 % und 4,5 %.

JahrBundLänderGemeindenEUGesamt
2025390,9415,1149,934,8990,7
2026392,0423,4156,244,81.016,5
2027404,7436,1163,047,11.051,0
2028414,5448,9168,647,81.079,8
2029427,6464,2174,549,61.115,9
2030444,2479,9180,450,91.155,4

Quelle: Arbeitskreis Steuerschätzungen, Oktober 2025.

3.2 Verteilungseffekte zwischen den staatlichen Ebenen

  • Länder und Gemeinden profitieren überproportional vom Wachstum. Für die Länder ergibt sich 2025 eine Mehreinnahme von 7,8 Mrd. €, für die Gemeinden von 2 Mrd. €.
  • Der Bund verzeichnet hingegen nur geringe Zuwächse: +1,8 Mrd. € (2025), +4,9 Mrd. € (2026). Ab 2028 wird sogar mit Mindereinnahmen gerechnet, da der Bund die Kosten mehrerer Steuerrechtsänderungen (z. B. Wachstumsbooster, Entlastungen im Finanzausgleich) trägt.
  • Die EU-Abführungen sinken leicht, was eine marginale Entlastung darstellt.

3.3 Steuerarten und Treiber

Das Plus resultiert vor allem aus höheren Einnahmen bei Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer. Auch Tabaksteuer und Solidaritätszuschlag tragen bei. Preissteigerungen und steigende Löhne führen nominal zu höheren Steueraufkommen, ohne dass sich reale Spielräume ausweiten.

4. Wirtschaftspolitische Bewertung

4.1 Kurzfristige Stabilisierung – Erfolg des Wachstumsprogramms?

Die Schätzung stützt die Regierungsnarration eines beginnenden Aufschwungs. Tatsächlich ist ein kurzfristiger Impuls durch das „Wachstumsbooster“-Programm, steuerliche Entlastungen und beschleunigte Investitionen erkennbar. Die binnenwirtschaftliche Stützung über Löhne und Konsum wirkt. Allerdings bleibt unklar, ob es sich um eine nachhaltige Trendumkehr oder um einen temporären, fiskalisch induzierten Effekt handelt.

Die Kritik, dass die industriellen Kernsektoren (Automobil, Chemie, Stahl) trotz dieser Maßnahmen unter Druck stehen, ist berechtigt. Der Finanzminister räumt selbst ein, dass die exportorientierte Wirtschaft nach wie vor schwächelt. Die Steuermehreinnahmen beruhen also weniger auf realer Produktionsausweitung als auf Preis- und Lohneffekten – ein Umstand, der die mittelfristige Tragfähigkeit relativiert.

4.2 Strukturelle Schieflage im föderalen Finanzausgleich

Die Schätzung verdeutlicht ein wachsendes fiskalisches Ungleichgewicht: Während Länder und Kommunen deutliche Mehreinnahmen erzielen, profitiert der Bund kaum. Ursache ist die Übernahme von Kompensationslasten (u. a. 25 Mrd. € bis 2029) und die Finanzierung von Sondervermögen. Dieses asymmetrische Verhältnis könnte mittelfristig zu Spannungen im föderalen System führen, da die Handlungsspielräume der Länder steigen, während der Bund seine Konsolidierungspolitik verschärfen muss.

4.3 Haushaltsrisiken und Konsolidierungsdruck

Ab 2027 öffnet sich laut Klingbeil eine strukturelle Haushaltslücke von rund 30 Mrd. €, bis 2029 von etwa 70 Mrd. €. Die wachstumsbedingten Mehreinnahmen kompensieren diese Lücke nur im einstelligen Milliardenbereich. Damit besteht weiterhin erheblicher Anpassungsbedarf durch Ausgabenkürzungen oder Einnahmenreformen.
Die fiskalische Konsolidierung bleibt daher das Kernproblem der kommenden Jahre. Ohne strukturelle Einsparungen, insbesondere im Sozialetat und bei Subventionen, droht eine Erosion des finanzpolitischen Handlungsspielraums.

4.4 Externe Risiken und makroökonomische Unsicherheiten

Die Projektion ist mit erheblichen Risiken behaftet: geopolitische Konflikte, globale Handelsstreitigkeiten, schwache Weltkonjunktur und Zinsentwicklung könnten die Annahmen schnell entwerten. Zudem ist ungewiss, ob die erwartete Investitionsdynamik tatsächlich eintritt, insbesondere bei privaten Investitionen. Ein Rückschlag auf den Energiemärkten oder ein Einbruch der Exportnachfrage würde die Einnahmenerwartungen unmittelbar schmälern.

5. Schlussfolgerungen

Die 169. Steuerschätzung ist ein vorsichtig positives Signal, aber kein Wendepunkt. Sie belegt, dass die konjunkturelle Bodenbildung eingesetzt hat und fiskalische Impulse kurzfristig wirken. Zugleich zeigt sie jedoch die Grenzen keynesianisch inspirierter Stabilisierungsmaßnahmen: Höhere nominale Steuereinnahmen ersetzen keine strukturellen Reformen.

Für die Wirtschaftspolitik ergeben sich drei zentrale Handlungsfelder:

  1. Strukturelle Konsolidierung: Eine nachhaltige Haushaltsstabilität verlangt die Reduktion konsumtiver Ausgaben und die Fokussierung öffentlicher Mittel auf wachstumswirksame Investitionen.
  2. Steuer- und Föderalreform: Die asymmetrische Belastung des Bundes bei gleichzeitiger Stärkung der Länderfinanzen bedarf einer Neujustierung des Finanzausgleichs.
  3. Wettbewerbsfähigkeit und Transformation: Um langfristig Wachstum zu sichern, müssen Bürokratieabbau, Innovationsförderung und Energiepolitik kohärent auf industrielle Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet werden.

Insgesamt markiert die Steuerschätzung 2025 weniger eine Trendwende als einen Moment relativer Stabilisierung. Der wirtschaftspolitische Kurs der Bundesregierung zeigt kurzfristige Wirkung, bleibt aber fiskalisch fragil. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob die Kombination aus Investitionsförderung und Konsolidierung in der Lage ist, die strukturelle Erneuerung der deutschen Volkswirtschaft tatsächlich einzuleiten.


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