Bewahren oder erneuern? Warum Richters Industrie-Diagnose zu kurz greift

Die provokante These des Berliner Autors Konstantin Richter trifft einen Nerv: Deutschland klammere sich zu sehr an alte Strukturen, statt Raum für Neues zu schaffen. Doch bei genauer Betrachtung erweist sich seine Analyse als einseitig.

Von der Deutschland AG ist nur ein Schatten geblieben. Was Konstantin Richter in seinem Buch „300 Männer“ beschreibt, dürfte vielen Unternehmern vertraut vorkommen: Jene enge Verflechtung von Banken, Versicherern und Industrie, die einst Deutschland groß machte, ist Geschichte. Geblieben sind Konzerne ohne klare Identität – und eine Politik, die reflexartig jede etablierte Struktur zu retten versucht.

Richters Diagnose sitzt. Während Amerika und China seit der Jahrtausendwende ganze Industrien neu erfanden – von künstlicher Intelligenz bis Elektromobilität –, dominieren hierzulande weiterhin Unternehmen aus dem Kaiserreich. SAP bleibt die rühmliche Ausnahme. Der Rest: BASF, Siemens, Daimler, VW – allesamt Gründungen vor 1914.

Das Dilemma der Bewahrungsmentalität

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Jahrzehntelang flossen Milliarden in die Erhaltung überkommener Strukturen: Kohlesubventionen, Abwrackprämien, Diesel-Privilegien. Geld und politische Aufmerksamkeit, die für den Aufbau neuer Technologie-Cluster fehlten. Als sich in den Sechzigerjahren an der US-Westküste die Tech-Revolution anbahnte, verließ man sich darauf, dass Siemens das schon richten würde. Als um die Jahrtausendwende durch die Entflechtung der Deutschland AG Kapital frei wurde, investierte man es lieber in US- und China-Expansionen als in heimische Innovation.

Richters Schlussfolgerung ist radikal: „Ein paar Standorte bei Daimler oder VW ziehen lassen“ – und endlich Bedingungen schaffen, die Neues groß werden lassen. Die Kultur des Ewig-alles-bewahren-Wollens habe Deutschland große Probleme bereitet.

Wo die Analyse zu kurz greift

So bestechend die Diagnose klingt, so vereinfachend ist die Therapie. Denn Richter übersieht: Die industrielle Kontinuität war nicht nur Ballast, sondern auch Fundament. Während Großbritannien und teilweise die USA eine radikale Deindustrialisierung durchlebten – mit allen sozialen Verwerfungen –, bewahrte Deutschland seine Exportstärke. Der vielgescholtene Mittelstand, die Hidden Champions, die ingenieurtechnische Exzellenz: Sie alle wurzeln in jener Beständigkeit, die Richter nun als Problem identifiziert.

Das eigentliche Versäumnis liegt tiefer. Es war nicht die Bewahrung an sich, die Deutschland lähmte, sondern das Fehlen einer echten Doppelstrategie. Andere Nationen – allen voran die USA und Frankreich – beweisen, dass sich traditionelle Industrie und radikale Innovation nicht ausschließen müssen. Dort entstanden neue Tech-Giganten, während zugleich Boeing, General Electric oder Airbus bestehen blieben.

Die wahren Innovationshemmnisse

Was Deutschland wirklich fehlt, ist nicht der Mut zur schöpferischen Zerstörung, sondern eine funktionierende Risikokapital-Kultur. Es sind die regulatorischen Hürden, die Start-ups ersticken. Es ist ein Bildungssystem, das Ingenieurskunst über Entrepreneurship stellt. Und es ist eine politische Klasse, die lieber Bestehendes subventioniert als Wagniskapital mobilisiert.

Richters Forderung, Standorte einfach „ziehen zu lassen“, verkennt zudem die geopolitische Realität. In einer Welt, in der China und die USA längst industriepolitisch agieren, wäre unilaterale Abrüstung fatal. Gerade in strategischen Bereichen – Halbleiter, Batterietechnologie, Medizintechnik – braucht Europa industrielle Souveränität, nicht weniger davon.

Was jetzt zu tun ist

Die Lösung liegt nicht im Entweder-oder, sondern im Sowohl-als-auch. Deutschland braucht keine Standortaufgabe, sondern einen Innovationspakt: Steuerliche Anreize für Wagniskapital. Entfesselung der Kapitalmärkte für Zukunftsinvestitrien. Bürokratieabbau für Gründer. Und ja, auch die Bereitschaft, ineffiziente Strukturen nicht künstlich zu beatmen.

Richters Kernthese bleibt richtig: Die reflexartige Rettung jeder etablierten Struktur bindet Ressourcen, die anderswo fehlen. Aber die Antwort kann nicht lauten, bewährte industrielle Stärken preiszugeben. Sie muss lauten: Innovation fördern, ohne das Bestehende zu opfern. Transformation statt Kapitulation.

Denn am Ende geht es nicht um die Wahl zwischen Daimler und Start-ups. Es geht darum, endlich beides zu können.


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