Herbst der Ernüchterung: Wo die deutsche Industrie wirklich steht

Von der Aufholjagd zur Abwanderung – die deutsche Industrie im Herbst 2025

Die deutsche Industrie erlebt derzeit einen Wendepunkt, den kaum jemand noch schönreden kann. Wo einst „Made in Germany“ für technologische Stärke und wirtschaftliche Stabilität stand, herrscht zunehmend Stillstand, Unsicherheit und Frustration. Die Hoffnung auf eine rasche Wende hat sich verflüchtigt – geblieben ist eine Mischung aus Resignation und nüchternem Realismus.

Eine neue Befragung der IG Metall unter Betriebsräten zeigt, wie tief die Krise reicht: Nur noch 45 Prozent der Betriebe blicken optimistisch in die Zukunft, fast ebenso viele sehen schwarz. Jeder fünfte Betrieb hat Kurzarbeit eingeführt, besonders betroffen sind Stahl, Maschinenbau und Fahrzeugbau. Hinzu kommen Energiepreise auf Rekordniveau und die US-Zollpolitik, die Investitionen in Deutschland zunehmend unattraktiv macht. Rund ein Fünftel der Unternehmen denkt inzwischen konkret über Produktionsverlagerungen in die USA nach – acht Prozent planen bereits.

Krisenmodus statt Transformation

Auch wenn die Bundesregierung unter Kanzler Friedrich Merz mit ihrem „Herbst der Reformen“ eine Trendwende angekündigt hat, bleibt der Effekt bisher aus. In der Industrie überwiegt Skepsis. „Die Industrie bewegt sich wie auf Kleister Richtung Besserung“, beschreibt IG-Metall-Chefin Christiane Benner das Stimmungsbild. Nur 45 Prozent der Betriebe verfügen über eine Strategie für die industrielle Transformation – ein alarmierendes Zeichen für ein Land, das einst als Innovationsmotor Europas galt.

In dieser Hinsicht sind sich linke wie liberale Stimmen ausnahmsweise einig: Die strukturelle Erneuerung stockt. Ökonom Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung spricht von einer „Erneuerungskrise“. Monat für Monat gehen über 10.000 Industriearbeitsplätze verloren – ein Trend, der seit zwei Jahren anhält. Besonders beunruhigend: Nur zwei Prozent der Industriebeschäftigten arbeiten in Unternehmen, die jünger als fünf Jahre sind. Zum Vergleich: In der Gesamtwirtschaft liegt der Anteil neuer Firmen bei sieben Prozent.

Vom Standortvorteil zum Standortrisiko

Was einst Deutschlands Stärke war – verlässliche Energieversorgung, qualifizierte Fachkräfte, planbare Regulierung – ist heute zur Bürde geworden. Die Energiewende, so notwendig sie ist, verteuert die Produktion massiv, solange alte und neue Infrastrukturen parallel laufen müssen. Der Umbau zu einer CO₂-armen Industrie ist im Gange, doch er kostet. Unternehmen beklagen eine Flut an Auflagen, Förderbürokratie und eine Politik, die zwischen Klimazielen und Wettbewerbsfähigkeit keinen klaren Kurs findet.

Gleichzeitig wird der Fachkräftemangel zum Bremsklotz. Laut aktuellen Prognosen fehlen bis 2027 rund 700.000 Fachkräfte. Neueinstellungen stocken, viele Firmen verzichten auf Expansion oder reagieren mit Stellenabbau. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) erwartet für 2025 bestenfalls eine Stagnation, von Wachstum keine Spur.

Zwischen Realitätssinn und Ratlosigkeit

Im Handelsblatt kommentiert Catiana Krapp den Zustand der Industrie als „Herbst der Desillusionierung“. Der kollektive Verlust der Illusion, der Staat könne die strukturellen Probleme kurzfristig lösen, sei schmerzhaft, aber notwendig. Energie werde auf absehbare Zeit nicht billiger, Klimaauflagen nicht lockerer und politische Entscheidungsprozesse in einer Demokratie nicht schneller. Nur wer sich diesen Realitäten stelle, könne wieder handlungsfähig werden.

Das ist ein nüchterner, aber richtiger Befund. Die Industrie kann nicht länger auf politische Wunder hoffen – sie muss sich selbst bewegen. Investitionen in Zukunftsfelder wie Batterietechnologie, Kreislaufwirtschaft, Wasserstoff und Künstliche Intelligenz sind entscheidend. Doch das gelingt nur, wenn Deutschland Gründungen erleichtert, Genehmigungsverfahren beschleunigt und Kapital in Innovation statt in Besitzstandswahrung lenkt.

Ein Land zwischen Anspruch und Abschied

Der Herbst 2025 markiert keine vorübergehende Delle, sondern den Beginn einer Neujustierung. Deutschland droht, vom Industriestandort zur verlängerten Werkbank anderer Volkswirtschaften zu werden – wenn es nicht gelingt, seine Stärken zu erneuern: Ingenieurskunst, Mittelstandsstruktur und Ausbildung. Noch ist es nicht zu spät. Aber die Zeit der Beschwichtigung ist vorbei.

Die Industrie muss jetzt nicht nur Energie sparen, sondern auch Mut fassen. Wer weiterhin auf alte Rezepte setzt, wird nicht überwintern.


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