Annalena Baerbock hat bei der UN in New York ihre Bewerbungsrede gehalten.
Zwischen Pathos und Prozessrhetorik: Eine kritische Analyse der Kandidatenrede zur UN-Generalversammlung
Guten Morgen, Herr Präsident der Generalversammlung, lieber Filimon Yang, Exzellenzen, geschätzte Vertreter der Zivilgesellschaft, meine Damen und Herren,
„Existenziell“ – das ist das Wort, das ich in den letzten Wochen am häufigsten gehört habe, wenn ich vielen von Ihnen zugehört und mit Ihnen diskutiert habe. Und ja, angesichts von 120 bewaffneten Konflikten weltweit – von Gaza, der Ukraine und dem Sudan bis hin zum Osten der Demokratischen Republik Kongo und dem Norden Myanmars –, angesichts der gefährdeten Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs), angesichts der Tatsache, dass die Vereinten Nationen selbst unter massivem politischem und finanziellem Druck stehen, ist es fair zu sagen: Im 80. Jahr ihres Bestehens steht die UN vor existenziellen Herausforderungen.
Dennoch bin ich überzeugt: Dies ist kein Moment der Verzweiflung.
Diese Krisen und Herausforderungen lasten schwer auf uns, auf der internationalen Gemeinschaft. Aber sie machen auch deutlich: Die Vereinten Nationen – unsere Vereinten Nationen – werden heute dringender gebraucht denn je.
Das ist die Aufgabe unserer Zeit: zu bewahren, was die UN seit 1945 erreicht hat; die Organisation zu erneuern, neu auszurichten – und fit zu machen für die Zukunft. Zielgerichtet. Besser. Gemeinsam.
Die Generalversammlung wird in diesem Unterfangen eine entscheidende Rolle spielen – als das repräsentativste Gremium und das pulsierende Herz des Multilateralismus.
Ich bin dem Kreis der westeuropäischen und anderen Staaten zutiefst dankbar für die Unterstützung der deutschen Kandidatur für das Amt des Präsidenten der Generalversammlung in der nächsten Sitzungsperiode. Und ich danke Ihnen, Exzellenzen, für die offenen Gespräche der vergangenen Wochen und die Unterstützung, die viele von Ihnen signalisiert haben.
Sollte ich gewählt werden, werde ich als Präsident allen 193 Mitgliedstaaten – großen wie kleinen – dienen: als ehrlicher Makler, als Brückenbauer, mit offenem Ohr und offener Tür.
Wir alle kommen aus unterschiedlichen Regionen, mit unterschiedlichen Hintergründen. Aber ich bin überzeugt: Es gibt etwas, das uns eint, wenn wir hier bei den Vereinten Nationen zusammenkommen – unser gemeinsames Streben nach Frieden, nach einer prosperierenden Zukunft, nach einem Leben frei von Unterdrückung.
Das Fundament unserer Arbeit ist die Charta der Vereinten Nationen – der Eckpfeiler des Völkerrechts. Als Präsident der Generalversammlung werde ich mich mit Nachdruck dafür einsetzen, diese Charta und die darin verankerten Prinzipien zu verteidigen.
Exzellenzen, meine Damen und Herren, heute habe ich die Ehre, meine Prioritäten für die Kandidatur mit Ihnen zu teilen, wie sie auch in meiner Visionserklärung unter dem Titel „Besser. Gemeinsam.“ dargelegt und verteilt wurde.
Erstens: Ich möchte dazu beitragen, dass die Vereinten Nationen zweckgemäß und zukunftsfähig werden – durch einen „Pakt für die Zukunft“.
Die Mitgliedstaaten haben damit begonnen, das Fundament für eine Revitalisierung des Multilateralismus zu legen, für eine beschleunigte Umsetzung der SDGs, und für eine Anpassung des UN-Systems an die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Damit dieser Pakt Wirkung entfaltet, müssen wir seine Umsetzung eng mit der UN80-Initiative des Generalsekretärs verknüpfen. Doppelarbeit reduzieren, Effizienz und Transparenz erhöhen – das erfordert harte Arbeit, aber es ist eine Arbeit, die getan werden muss.
Ein Beispiel aus der Präsentation des Generalsekretärs am Montag: Es gibt über 3 600 Einzelmandate allein für das UN-Sekretariat. Wenn wir wollen, dass diese Mandate für das UN-System und die Mitgliedstaaten – insbesondere die kleineren – handhabbar bleiben, dann müssen wir sie überprüfen, fokussieren und unsere Ressourcen effizient einsetzen – auch innerhalb der Generalversammlung.
Analyse
1. Rhetorische Strategie: Pathos, Wiederholung, Symbolik
Die Rede beginnt mit einem emotional aufgeladenen Begriff: „existenziell“. Dieser Begriff wird gleich zu Beginn rhetorisch mehrfach betont und soll das Gewicht der gegenwärtigen Krisenlage unterstreichen. Dabei wird eine dramatische Weltlage skizziert, mit 120 bewaffneten Konflikten und der Schwächung zentraler multilateraler Strukturen. Diese Zuspitzung dient offenbar dazu, die Relevanz und Dringlichkeit der UN – und implizit der eigenen Kandidatur – zu unterstreichen. Das ist ein gängiges rhetorisches Mittel, kann jedoch auch als strategisches Alarmismus-Narrativ gewertet werden.
Kritik: Es fehlt an einer genauen Differenzierung der benannten Krisenherde. Der Verweis auf „Gaza, Ukraine, Sudan, östlicher Kongo, Nord-Myanmar“ bleibt plakativ und ohne konkrete politische Analyse oder Lösungsperspektive. So wird das Pathos zur Kulisse für eine eher generische Reformagenda, ohne in die Tiefe zu gehen.
2. Politische Inhalte: Allgemeinplätze statt Agenda
Inhaltlich folgt die Rede bekannten Leitlinien: Bekenntnis zur UN-Charta, zum Multilateralismus, zur Stärkung der Vereinten Nationen. Das klingt diplomatisch, aber zugleich auch austauschbar. Besonders auffällig: Der Begriff „fit for purpose“ – ein häufig wiederholter Begriff aus der Technokratie des UN-Apparats – wird als Zielvorgabe präsentiert, ohne zu erläutern, wie genau „Zweckmäßigkeit“ in einem multilateralen, oft handlungsunfähigen System aussehen soll.
Der „Pakt für die Zukunft“, auf den verwiesen wird, bleibt ebenfalls unkonkret. Die Rede nennt zwar Schlagworte wie „Effizienz“, „Transparenz“, „SDGs beschleunigen“, „Doppelarbeit vermeiden“, aber es fehlt eine Analyse der politischen Blockaden, etwa durch Vetomächte im Sicherheitsrat oder finanzielle Interessenkonflikte zwischen Nord und Süd.
Kritik: Die Rede bleibt auf der Ebene von Verwaltungs- und Prozessoptimierung – geradezu technokratisch – während die politischen Kernprobleme des UN-Systems (z. B. mangelnde Repräsentativität des Sicherheitsrats, koloniale Kontinuitäten im Mandatssystem, Machtasymmetrien) nicht thematisiert werden.
3. Positionierung Deutschlands: Anspruch vs. Realität
Indem Deutschland sich für das Amt des Präsidenten der Generalversammlung bewirbt, betont es seinen Anspruch, eine stärkere Führungsrolle im multilateralen System zu übernehmen. Das wird diplomatisch verpackt: als „ehrlicher Makler“, als „offenes Ohr“. Diese Selbstbeschreibung ist strategisch klug gewählt, denn sie positioniert Deutschland als konsensorientiert, dialogbereit, zugleich aber auch als fähig, Verantwortung zu übernehmen.
Kritik: Hier besteht eine Kluft zwischen Anspruch und Realität. Deutschland ist z. B. einer der größten Waffenexporteure weltweit – auch in Konfliktregionen –, gehört aber gleichzeitig zu den lautesten Mahnern für Frieden. Solche Widersprüche werden in der Rede ausgeklammert. Auch Deutschlands oft restriktive Haltung in Fragen globaler Finanzierung (etwa bei der Entwicklungsfinanzierung oder beim Klimafonds) bleibt unerwähnt.
4. Strukturelle Schwächen: Viel Ankündigung, wenig Substanz
Die Rede gibt sich visionär, bleibt aber in weiten Teilen vage. Formulierungen wie „erneuern, neu ausrichten, besser gemeinsam“ oder „die Generalversammlung als Herz des Multilateralismus“ bedienen diplomatische Sprachrituale, liefern aber keine echte Strategie. Auch das wiederholte Lob auf die Rolle der Generalversammlung kann als Versuch gewertet werden, politische Blockaden im Sicherheitsrat zu umgehen – eine Absicht, die nachvollziehbar, aber realpolitisch begrenzt wirksam ist.
Kritik: Die strukturelle Machtlosigkeit der Generalversammlung wird rhetorisch kaschiert. Das Gremium ist symbolisch stark, aber rechtlich weitgehend machtlos gegenüber Sicherheitsrat oder mächtigen Einzelstaaten. Dass sich daran auch unter einer deutschen Präsidentschaft kaum etwas ändern wird, bleibt unausgesprochen.
Fazit
Die Rede ist formal stark, rhetorisch geschliffen und diplomatisch klug – doch inhaltlich bleibt sie an entscheidenden Stellen zu unkonkret. Sie ist symptomatisch für eine multilaterale Rhetorik, die Legitimität durch Konsenssprache herzustellen versucht, ohne die systemischen Defizite der internationalen Ordnung offen zu benennen. Gerade in einer Zeit multipler globaler Krisen wäre eine ehrlichere, tiefgreifendere Analyse dringend geboten – auch mit Blick auf die Rolle westlicher Staaten im globalen Machtgefüge.
Ein ambitionierter Kandidat oder eine Kandidatin müsste mehr liefern als Prozessvokabular – nämlich eine klare Haltung zu Frieden, Gerechtigkeit und struktureller Reform. Daran gemessen bleibt diese Rede hinter ihrem eigenen Anspruch zurück.