Ausreiseverbot – DDR 2.0?

„Ausreiseverbote“ (WD 3-3000-039/25)

Die vorliegende Arbeit der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages bietet einen umfassenden Überblick über die rechtlichen Grundlagen, historische Entwicklung und aktuelle Anwendung von Ausreiseverboten gegenüber deutschen Staatsangehörigen. Sie beleuchtet insbesondere die passrechtlichen Regelungen, die Verfassungskonformität der Maßnahmen sowie die praktische Handhabung durch die Behörden und die Rechtsprechung.

1. Einleitung

Die Arbeit untersucht die gesetzlichen Grundlagen für Ausreiseverbote in der Bundesrepublik Deutschland, wobei der Schwerpunkt auf dem Passgesetz (PassG) liegt. Sie erläutert, unter welchen Voraussetzungen deutschen Staatsangehörigen die Ausreise verboten oder untersagt werden kann, und geht insbesondere auf die Passversagungsgründe ein, die mit der Gefährdung erheblicher Belange des Staates begründet werden.

2. Ausreiseverbote nach dem Passrecht – Regelungsüberblick

  • Grundsatz der Ausreisefreiheit: Deutsche Staatsangehörige dürfen grundsätzlich frei ausreisen. Allerdings besteht gemäß § 1 Abs. 1 PassG eine Pflicht zur Mitführung eines Passes beim Grenzübertritt (sog. Passzwang). Innerhalb der EU oder für bestimmte Nachbarländer kann alternativ ein Personalausweis verwendet werden.
  • Rechtsgrundlage für Ausreiseuntersagung: Die zentrale Regelung findet sich in § 10 PassG:
  • Zwingende Untersagung der Ausreise, wenn:
    • der Pass nach § 7 PassG versagt oder nach § 8 entzogen wurde,
    • oder der Personalausweis nach § 6 Abs. 7 PAuswG so beschränkt ist, dass er nicht zum Verlassen Deutschlands berechtigt.
  • Ermächtigung zur Untersagung, wenn:
    • Tatsachen nahelegen, dass ein Passversagungsgrund vorliegt,
    • oder der Betroffene keinen gültigen Pass oder Passersatz mitführt.
  • Ausnahme: Nach § 10 Abs. 2 PassG kann die Ausreise ausnahmsweise gestattet werden, wenn der Betroffene dringende Gründe glaubhaft macht.
  • Passversagungsgründe nach § 7 Abs. 1 PassG:
    Ein Pass ist zu versagen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Antragsteller:
  1. die innere oder äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik gefährdet;
  2. einer Strafverfolgung oder Strafvollstreckung entziehen will;
  3. gegen Betäubungsmittelgesetze verstoßen will;
  4. steuerliche, zollrechtliche oder auswärtswirtschaftliche Pflichten umgehen will;
  5. einer gesetzlichen Unterhaltspflicht entziehen will;
  6. sich unbefugt zum Wehrdienst außerhalb der Bundeswehr verpflichten will;
  7. als Wehrpflichtiger ohne Genehmigung länger als drei Monate ausreisen will;
  8. als Wehrpflichtiger ohne Genehmigung ausreisen will;
  9. als Kriegsdienstverweigerer ohne Genehmigung länger als drei Monate ausreisen will;
  10. eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereiten wird (§ 89a StGB);
  11. eine weibliche Genitalverstümmelung im Ausland vornehmen oder veranlassen wird (§ 226a StGB);
  12. sexuellen Missbrauch von Minderjährigen im Ausland begehen wird (§§ 174 ff. StGB).
  • Prognosemaßstab: Entscheidend ist eine konkrete Gefahrenprognose auf der Grundlage tatsächlicher, zeitlich und örtlich bestimmter Anhaltspunkte. Bloße Vermutungen reichen nicht aus.
  • Entziehung des Passes (§ 8 PassG): Der Pass kann entzogen werden, wenn nachträglich Tatsachen bekannt werden, die eine Versagung gerechtfertigt hätten.
  • Personalausweisbeschränkung (§ 6 Abs. 7 PAuswG): Auch der Personalausweis kann beschränkt werden, wenn die Voraussetzungen des § 7 PassG vorliegen.
  • Versagung/Entziehung des Personalausweises (§ 6a PAuswG): Seit 2015 möglich, wenn der Betroffene u. a. terroristische Aktivitäten unterstützen will – um zu verhindern, dass er trotz Passentziehung mit dem Personalausweis ausreist.
  • Sanktionen:
  • Straftat (§ 24 PassG): Wer trotz Ausreiseuntersagung, Passversagung oder -entziehung ausreist, wird mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bestraft (auch Versuch).
  • Ordnungswidrigkeit (§ 25 PassG): Fahrlässige Ausreise wird mit einer Geldbuße bis zu 30.000 € geahndet.
  • Keine aufschiebende Wirkung: Widerspruch oder Klage gegen Passbeschränkung, -entziehung oder Ausreiseuntersagung hat keine aufschiebende Wirkung (§ 14 PassG).

3. Historische Entwicklung der Ausreiseverbote

  • Nachkriegszeit: Bis 1952 lag die Passhoheit bei den Alliierten. Danach wurde sie schrittweise an die Bundesrepublik zurückgegeben.
  • 1952: Einführung des ersten „Gesetzes über das Paßwesen“, das bereits die Grundzüge der heutigen Passversagungsgründe enthielt.
  • 1986: Neufassung des Passgesetzes zur Einführung des maschinenlesbaren Passes. Erweiterung der Passversagungsgründe (u. a. Wehrdienst, Zivildienst).
  • 2000: Streichung veralteter Regelungen zur DDR und Aufnahme der Strafbarkeit bei Verstoß gegen Passbeschränkungen – u. a. nach Gewalttaten deutscher Hooligans bei der WM 1998.
  • 2009: Einführung des § 89a StGB (Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten) und Ergänzung des entsprechenden Passversagungsgrundes (§ 7 Abs. 1 Nr. 10 PassG).
  • 2015: Einführung von § 6a PAuswG, um auch den Personalausweis bei terroristischen Gefahren versagen oder entziehen zu können.
  • 2017: Ergänzung um § 7 Abs. 1 Nr. 11 PassG zum Schutz vor weiblicher Genitalverstümmelung.
  • 2023: Ergänzung um § 7 Abs. 1 Nr. 12 PassG zum Schutz vor sexuellem Missbrauch von Minderjährigen im Ausland.

4. Der Passversagungsgrund nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG

Dieser Paragraph ist der breiteste und politisch sensibelste Passversagungsgrund und betrifft die Gefährdung der inneren oder äußeren Sicherheit oder sonstiger erheblicher Belange der Bundesrepublik.

4.1. Das Elfes-Urteil (BVerfG, 1957)
  • Fall: Wilhelm Elfes, ein Politiker, wurde die Passverlängerung verweigert, weil er auf internationalen Kongressen Erklärungen unterschrieben hatte, die die Bundesrepublik als Kriegsgefahr darstellten.
  • BVerwG: Bejahte den Passversagungsgrund unter Hinweis auf die Gefährdung des Ansehens der Bundesrepublik im Ausland.
  • BVerfG: Erklärte die Regelung für verfassungskonform:
  • Die Ausreisefreiheit ist Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG).
  • Der Passzwang und die Passversagung seien verhältnismäßig, da ein Rechtsanspruch auf Passerteilung grundsätzlich besteht.
  • Der Begriff „sonstige erhebliche Belange“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, unterliegt aber der vollen gerichtlichen Kontrolle.
  • Die Belange müssen „wenn auch nicht gleich, so doch nahekommen“ der inneren/äußeren Sicherheit.
4.2. Fallgruppen der Praxis

Die Rechtsprechung hat verschiedene Fallgruppen entwickelt, in denen eine Gefährdung erheblicher Belange angenommen wird:

  1. Gefährdung des Ansehens der Bundesrepublik:
  • Hooliganismus: Bei gewalttätigen Fußballfans, deren Verhalten im Ausland das Ansehen Deutschlands schädigt.
  • Rechtsextremismus: Reisen, die darauf abzielen, rechtsextreme Ideologien im Ausland zu verbreiten (z. B. durch Auftritte bei internationalen Neonazi-Veranstaltungen).
  • Antisemitische oder verfassungsfeindliche Äußerungen: Nur wenn sie nachhaltige Wirkung im Ausland entfalten oder den Eindruck erwecken, sie würden von breiten Bevölkerungskreisen geteilt.
  1. Teilnahme an gewalttätigen Ausschreitungen bei internationalen Gipfeln:
  • Wenn zu befürchten ist, dass der Betroffene nicht nur friedlich demonstriert, sondern gewalttätige Ausschreitungen begeht (z. B. bei G7- oder NATO-Gipfeln).
  1. Terrorismus und Dschihad:
  • Reisen zur Teilnahme an Kampfhandlungen (z. B. Syrien, Irak) oder zur Ausbildung in terroristischen Lagern.
  • Gefährdung des internationalen Ansehens, der außenpolitischen Interessen und der inneren Sicherheit (bei Rückkehr mit Kampferfahrung).
  • Hier greifen auch andere Passversagungsgründe wie § 7 Abs. 1 Nr. 6 (Wehrdienst außerhalb der Bundeswehr) und Nr. 10 (Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten).
  1. Entführung und Erpressung:
  • Bei konkreter Gefahr, dass ein Reisender im Ausland entführt und als Geisel genutzt wird, kann dies die außenpolitische Handlungsfreiheit gefährden.
  • In der Literatur umstritten, in der Praxis jedoch anerkannt.
  1. Pandemie (Corona):
  • In der Frühphase der Pandemie wurden Ausreiseuntersagungen zur Eindämmung von SARS-CoV-2 verhängt, wenn keine triftigen Gründe vorlagen oder Krankheitssymptome bestanden.
  • Diese Maßnahmen wurden auf § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG gestützt.
  1. Soziale Gründe (veraltet):
  • Früher wurde argumentiert, dass mittellose „Weltenbummler“ oder „Bettler“** das Ansehen Deutschlands schädigen könnten.
  • Heute wird diese Auffassung in der Literatur überwiegend abgelehnt, da sie den strengen Maßstäben der Rechtsprechung nicht standhält.

Fazit

Die Ausreiseverbote in Deutschland basieren auf einem dichten passrechtlichen Regelwerk, das die Ausreisefreiheit deutscher Staatsangehöriger mit staatlichen Sicherheitsinteressen in Einklang bringen soll. Die wichtigste Rechtsgrundlage ist das Passgesetz, insbesondere § 7 Abs. 1 PassG, der eine Vielzahl von Passversagungsgründen kennt.

Der breiteste und politisch sensibelste Grund ist die Gefährdung „sonstiger erheblicher Belange“, dessen Anwendung durch das Elfes-Urteil verfassungskonform legitimiert wurde. Die Rechtsprechung verlangt dabei eine konkrete, nachprüfliche Gefahrenprognose und lehnt willkürliche oder bloß vermutete Gefahren ab.

In der Praxis werden Ausreiseverbote vor allem bei terroristischen Aktivitäten, Hooliganismus, rechtsextremistischen Bestrebungen und Reisen mit kriminellem Ziel im Ausland verhängt. Die Maßnahmen sind sofort vollziehbar, und Verstöße werden straf- oder bußgeldbewehrt.

Die Entwicklung des Passrechts spiegelt die sich wandelnden Sicherheitsbedrohungen wider – von der Nachkriegszeit über den Kalten Krieg bis hin zu modernen Herausforderungen wie internationaler Terrorismus, Kinderpornografie im Ausland und Pandemien.

Die Arbeit betont, dass alle Maßnahmen verhältnismäßig sein müssen und der Rechtsstaatlichkeit unterworfen sind, auch wenn sie aufgrund ihrer Dringlichkeit oft ohne aufschiebende Wirkung vollzogen werden.


Wie hilfreich war dieser Beitrag?

Klicke auf die Sterne um zu bewerten!

Durchschnittliche Bewertung 0 / 5. Anzahl Bewertungen: 0

Bisher keine Bewertungen! Sei der Erste, der diesen Beitrag bewertet.

Es tut uns leid, dass der Beitrag für dich nicht hilfreich war!

Lasse uns diesen Beitrag verbessern!

Wie können wir diesen Beitrag verbessern?

Disclaimer: Dieser Beitrag dient lediglich zu allgemeinen Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Bitte konsultieren Sie vor jeder Anlageentscheidung einen unabhängigen Finanzberater