Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland feiert im Mai 2024 sein 75-jähriges Bestehen. Obwohl es inhaltlich eine vollwertige Verfassung darstellt, trägt es nicht diesen Namen und enthält mit Artikel 146 eine Bestimmung, die seine eigene Ablösung vorsieht. Diese rechtliche Konstruktion wirft Fragen auf, insbesondere im Kontext der deutschen Wiedervereinigung, die bereits vor über 34 Jahren stattfand.
Historische Entstehung des Grundgesetzes als Provisorium
Das Grundgesetz entstand in einer Zeit der Unsicherheit und Teilung. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lag Deutschland in Trümmern und war in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Mit zunehmendem Konflikt zwischen Ost und West beauftragten die drei westlichen Alliierten am 1. Juli 1948 die Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder, eine demokratische Verfassung zu entwerfen. Der daraufhin gebildete Parlamentarische Rat, bestehend aus 61 Männern und 4 Frauen unter dem Vorsitz von Konrad Adenauer, erarbeitete in achtmonatiger Arbeit den Verfassungstext.
Die Bezeichnung „Grundgesetz“ statt „Verfassung“ war eine bewusste Entscheidung. Die westdeutschen Politiker wollten damit den provisorischen Charakter des Dokuments betonen, da sie hofften, dass Deutschland bald wiedervereinigt werden könnte. Die Ministerpräsidenten hatten zunächst gezögert, eine vollwertige Verfassung zu erstellen, da diese nur für Westdeutschland gelten würde und damit die Teilung Deutschlands zu verfestigen drohte. Das Grundgesetz sollte daher als Übergangslösung dienen, bis eine gesamtdeutsche Verfassung möglich würde.
Am 8. Mai 1949 wurde das Grundgesetz fertiggestellt und von den westlichen Besatzungsmächten genehmigt. Am 23. Mai 1949 wurde es in Bonn unterzeichnet und trat mit Ablauf dieses Tages in Kraft. Obwohl es als Provisorium gedacht war, entwickelte sich das Grundgesetz mit seinen klaren demokratischen Prinzipien und starken Grundrechtsgarantien zu einem stabilen Fundament für die westdeutsche Demokratie.
Die Besonderheit des Artikels 146 GG
Eine Besonderheit des Grundgesetzes ist Artikel 146, der seine eigene Ablösung vorsieht. In seiner ursprünglichen Fassung besagte er, dass das Grundgesetz seine Gültigkeit an dem Tag verlieren würde, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Diese für Verfassungen ungewöhnliche Bestimmung unterstreicht den provisorischen Charakter, den die Verfasser dem Grundgesetz ursprünglich zugedacht hatten.
Artikel 146 war zusammen mit der damaligen Präambel Ausdruck des Staatsziels der Wiedervereinigung und dokumentierte die Annahme des Parlamentarischen Rates, mit dem Grundgesetz lediglich eine Übergangsverfassung geschaffen zu haben. Die Norm öffnete theoretisch den Weg für eine zukünftige Verfassungsneuschöpfung durch die verfassunggebende Gewalt des gesamten deutschen Volkes.
Die Wiedervereinigung und die Verfassungsfrage
Mit dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 und der sich abzeichnenden Möglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung stellte sich plötzlich die Frage, ob nun der historische Moment für eine neue, gesamtdeutsche Verfassung gekommen sei. Es entbrannte eine leidenschaftliche Debatte über diese Option.
Die Debatte um eine neue Verfassung
Die Befürworter einer neuen Verfassung argumentierten, dass die in Artikel 146 GG vorgesehene Mitwirkung des gesamten deutschen Volkes zentral für die gemeinsame Identitätsbildung des vereinigten Deutschlands sei. Sie betonten, dass eine gemeinsam erarbeitete Verfassung das Zusammenwachsen beider deutscher Staaten fördern könnte.
Die Gegner einer Verfassungsneuschöpfung gaben zu bedenken, dass das Grundgesetz die beste Verfassung sei, die Deutschland jemals gehabt habe. Sie wiesen auf die Stabilität hin, die das Grundgesetz der westdeutschen Demokratie über vier Jahrzehnte gegeben hatte, und auf seine bewährten Schutzmechanismen gegen autoritäre Tendenzen.
Die pragmatische Entscheidung
Am Ende war der Druck der Ereignisse ausschlaggebend. Der Wunsch der Menschen in der DDR nach rascher Veränderung und die dynamische Entwicklung des Wiedervereinigungsprozesses führten dazu, dass der Prozess einer Verfassungsneuschöpfung als zu langwierig erschien. Die Vereinigung wurde daher durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 GG (in der alten Fassung) vollzogen, was bedeutete, dass das Grundgesetz beibehalten wurde.
Der Einigungsvertrag änderte jedoch Artikel 146 GG. In seiner neuen Fassung erhielt er den Zusatz „das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt“. Diese Änderung erkannte die neue Realität an, dass das Grundgesetz nun nicht mehr nur für einen Teil Deutschlands galt, sondern für das gesamte wiedervereinigte Land. Dennoch blieb die grundsätzliche Möglichkeit bestehen, das Grundgesetz durch eine vom deutschen Volk beschlossene Verfassung abzulösen.
Kritische Betrachtung der Beibehaltung des Grundgesetzes
Die Entscheidung, das Grundgesetz als Verfassung des wiedervereinigten Deutschlands beizubehalten, verdient eine kritische Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven.
Legitimitätsfrage
Aus demokratietheoretischer Sicht könnte man argumentieren, dass eine neue, vom gesamten deutschen Volk erarbeitete und beschlossene Verfassung eine stärkere demokratische Legitimation gehabt hätte als das von den westdeutschen Ländern geschaffene Grundgesetz. Artikel 146 GG selbst erkennt an, dass eine „vom deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossene“ Verfassung einen höheren Legitimitätsanspruch hätte als das Grundgesetz.
Die Bürger der ehemaligen DDR hatten keine Möglichkeit, an der Gestaltung der Verfassung mitzuwirken, unter der sie nun leben sollten. Sie konnten lediglich dem fertigen Produkt zustimmen, indem sie für Parteien stimmten, die den Beitritt nach Artikel 23 GG befürworteten.
Identitätsbildung und Integration
Die gemeinsame Erarbeitung einer Verfassung hätte möglicherweise zur Überwindung der mentalen Teilung Deutschlands beitragen können. Ein inklusiver Verfassungsprozess hätte ein Symbol für das Zusammenwachsen beider deutscher Staaten sein können und den Bürgern der ehemaligen DDR das Gefühl geben können, gleichberechtigte Mitgestalter des neuen Deutschlands zu sein.
Andererseits lässt sich argumentieren, dass die schnelle Einführung des Grundgesetzes in den neuen Bundesländern Rechtssicherheit und stabile demokratische Strukturen in einer Zeit des Umbruchs garantierte. Die bewährten Grundrechte und demokratischen Institutionen standen sofort zur Verfügung, ohne dass ein möglicherweise langwieriger und konfliktreicher Verfassungsprozess abgewartet werden musste.
Pragmatismus versus Idealismus
Die Entscheidung für die Beibehaltung des Grundgesetzes spiegelt einen pragmatischen Ansatz wider. Angesichts der rasanten Entwicklung der Ereignisse und der wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen der Wiedervereinigung erschien eine schnelle Lösung vorteilhafter als ein zeitaufwändiger Verfassungsprozess.
Diese pragmatische Herangehensweise hat jedoch möglicherweise eine historische Chance verpasst. Eine umfassende Verfassungsdebatte hätte Gelegenheit geboten, über grundlegende Fragen der Staatsorganisation und der Grundrechte im vereinigten Deutschland neu nachzudenken und möglicherweise innovative Lösungen zu finden.
Der fortbestehende Artikel 146 GG
Bemerkenswert ist, dass Artikel 146 GG trotz der Wiedervereinigung nicht gestrichen, sondern nur modifiziert wurde. Dies deutet darauf hin, dass der Verfassungsgeber die Möglichkeit einer zukünftigen Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung bewusst offenhalten wollte.
Diese Offenheit könnte als Eingeständnis interpretiert werden, dass die Beibehaltung des Grundgesetzes zwar eine praktikable Lösung war, aber möglicherweise nicht die ideale langfristige Antwort auf die Verfassungsfrage eines wiedervereinigten Deutschlands darstellt.
Fazit: Das Grundgesetz zwischen Provisorium und Dauerlösung
Das Grundgesetz, ursprünglich als Provisorium konzipiert, hat sich zu einer dauerhaften und erfolgreichen Verfassung entwickelt. Die Entscheidung, es nach der Wiedervereinigung beizubehalten, anstatt eine neue Verfassung zu schaffen, war primär pragmatisch motiviert und reflektierte die Dringlichkeit der historischen Situation.
Diese Entscheidung hatte sowohl Vor- als auch Nachteile. Einerseits ermöglichte sie einen schnellen und rechtlich stabilen Übergang zur deutschen Einheit. Andererseits wurde möglicherweise eine Gelegenheit verpasst, durch einen inklusiven Verfassungsprozess zur nationalen Integration beizutragen und die Verfassung an die Herausforderungen eines wiedervereinigten Deutschlands anzupassen.
Die Beibehaltung von Artikel 146 GG mit seiner Öffnungsklausel für eine zukünftige Verfassung zeigt, dass diese Frage theoretisch noch nicht abschließend beantwortet ist. In der Praxis hat sich das Grundgesetz jedoch als außerordentlich stabile und anpassungsfähige Verfassung erwiesen, die breite Akzeptanz genießt. Seine Bezeichnung als „Grundgesetz“ statt „Verfassung“ ist heute vor allem von historischem Interesse und spiegelt die besonderen Umstände seiner Entstehung wider, nicht aber einen inhaltlichen Mangel oder eine fehlende verfassungsrechtliche Qualität.