Short Interest Ratio: Was Leerverkäufe wirklich über den Markt verraten
Von fallenden Kursen profitieren? Klingt für viele wie ein Paradox. Doch genau das ist die Strategie hinter Leerverkäufen – und das Short Interest Ratio (SIR) verrät, wie stark Anleger aktuell auf sinkende Aktienkurse setzen. Aber was steckt wirklich hinter dieser Kennzahl? Und wie zuverlässig ist sie? Dieser Beitrag liefert Antworten – und geht dabei auch auf die Schattenseiten des beliebten Börsenindikators ein.
Was ist das Short Interest Ratio?
Das Short Interest Ratio (kurz: SIR) ist eine Kennzahl, die das Verhältnis zwischen leerverkauften Aktien und dem durchschnittlichen täglichen Handelsvolumen beschreibt. In einfachen Worten zeigt sie, wie viele Handelstage es bräuchte, um alle bestehenden Short-Positionen aufzulösen, wenn täglich nur das übliche Volumen umgesetzt würde.
Formel:
SIR = Anzahl leerverkaufter Aktien / Durchschnittliches tägliches Handelsvolumen
Beispiel:
Eine Aktie hat 3 Mio. leerverkaufte Stücke bei einem Tagesvolumen von 500.000 Aktien.
→ Das SIR beträgt 6 – es würde theoretisch 6 Handelstage dauern, um alle Short-Positionen zu schließen.
Was sagt das SIR aus – und was nicht?
Ein hohes Short Interest Ratio wird häufig als Warnsignal für fallende Kurse oder als Hinweis auf einen bevorstehenden Short Squeeze interpretiert. Doch Vorsicht: Die Kennzahl ist kein Kursprognose-Werkzeug, sondern vor allem ein Stimmungsbarometer.
Was ein hohes SIR andeuten kann:
- Pessimismus: Viele Marktteilnehmer rechnen mit sinkenden Kursen.
- Short Squeeze-Risiko: Bei positiven News kann der Kurs stark steigen, wenn Leerverkäufer in Panik zurückkaufen.
- Liquiditätsrisiko: Wenn zu viele Positionen offen sind und das Volumen niedrig ist, wird der Ausstieg schwierig.
Was ein niedriges SIR bedeutet:
- Geringe Short-Aktivität.
- Oft Hinweis auf optimistischere Marktstimmung.
- Aber: Nicht jede Aktie mit niedrigem SIR ist ein „Kauf“ – manche Titel sind schlicht uninteressant für Spekulanten.
Die unterschätzten Grenzen des SIR
So beliebt das Short Interest Ratio auch ist – es hat einige gravierende Schwächen, die in vielen Ratgebern kaum Erwähnung finden:
1. Verzögerte Datenlage
In den meisten Märkten wird das Short Interest nur alle zwei Wochen veröffentlicht – häufig mit mehreren Tagen Verzögerung. Das bedeutet: Das SIR zeigt ein Bild der Vergangenheit, nicht der Gegenwart. In volatilen Phasen kann diese Verzögerung zu Fehleinschätzungen führen.
2. Rehypothecation: Die Mehrfachleihe von Aktien
Viele Anleger wissen nicht, dass dieselbe Aktie mehrfach leerverkauft werden kann – durch sogenannte Rehypothecation. Das führt zu künstlich erhöhten SIR-Werten, die nicht unbedingt echte Marktmeinung widerspiegeln, sondern auf strukturelle Besonderheiten im Wertpapierleihe-Markt zurückgehen.
3. Branchenspezifische Unterschiede
Ein SIR von 5 mag für einen Tech-Titel hoch sein – für Biotech-Werte oder spekulative Nebenwerte ist er oft die Norm. Umgekehrt kann ein SIR von 2 bei einer defensiven Versorgeraktie bereits ein Warnsignal sein. Ohne Branchenvergleich bleibt das SIR interpretatorisch blind.
4. Unterschiedliche Erhebungsmethoden je nach Börsenplatz
Die Transparenz bei Leerverkaufsdaten variiert international stark. Während die US-Börsen recht detaillierte Einblicke geben, ist die Datenlage in Europa oder Asien häufig fragmentarisch oder gar nicht öffentlich. Wer weltweit investiert, sollte das SIR daher mit Vorsicht vergleichen.
Wie Anleger das SIR richtig nutzen
Trotz aller Einschränkungen hat das Short Interest Ratio einen klaren Nutzen – wenn es im Kontext betrachtet wird:
Als Teil einer Sentimentanalyse:
Ein extrem hohes SIR in Kombination mit stabilen Fundamentaldaten kann auf Übertreibung hindeuten – und eine Kaufchance für mutige Contrarians sein.
Als Frühwarnsystem für Short Squeezes:
Wird ein Titel plötzlich durch positive Unternehmensnachrichten beflügelt, kann ein hohes SIR den Turbo für schnelle Kursgewinne darstellen.
Als Hinweisgeber auf Liquiditätsfallen:
Kleines Handelsvolumen bei gleichzeitig vielen Short-Positionen? Das sollte konservative Anleger abschrecken – hier droht hohe Volatilität.
Fazit: SIR mit Verstand einsetzen – nicht als Orakel
Das Short Interest Ratio ist ein nützlicher, aber oft überschätzter Indikator. Wer es isoliert interpretiert, riskiert Fehlentscheidungen. Wer es hingegen mit fundamentalen Daten, technischer Analyse und Marktpsychologie kombiniert, kann wertvolle Einblicke in die Mechanik des Marktes gewinnen – und sich einen Informationsvorsprung sichern.
Merke:
Ein hoher SIR ist kein Aufwärtssignal. Ein niedriger SIR ist kein Freifahrtschein. Und ein einzelner Indikator ersetzt nie die gründliche Analyse eines Unternehmens.