Der 5AM Club: Früher aufstehen, erfolgreicher leben?

Ein Trend auf dem Prüfstand zwischen Selbstdisziplin, Schlafmangel und moderner Leistungsmoral

Es klingt verlockend: Um fünf Uhr morgens aufstehen, während die Welt noch schläft. Keine E-Mails, keine Anrufe, keine Kinder, keine Termine – nur du, dein Körper, dein Geist. Wer früh beginnt, gewinnt – so lautet die Devise des sogenannten „5AM Clubs“, einer Bewegung, die von Millionen Menschen weltweit als Schlüssel zu mehr Produktivität, Klarheit und Lebensqualität gefeiert wird. Aber funktioniert das wirklich – für jeden?

Ein Konzept geht viral

Ins Rollen gebracht wurde der Trend durch den kanadischen Leadership-Coach und Autor Robin Sharma, dessen Buch The 5 AM Club sich seit seiner Veröffentlichung 2018 zum internationalen Bestseller entwickelte. Sharma propagiert darin eine einfache Formel: Wer jeden Tag um fünf Uhr aufsteht und die erste Stunde des Tages nach dem „20/20/20“-Prinzip gestaltet – 20 Minuten Bewegung, 20 Minuten Reflexion, 20 Minuten Lernen – erschließt ungeahnte Potenziale.

Für viele klingt das nach der ultimativen Morgenroutine: klar strukturiert, diszipliniert, inspirierend. Influencer auf TikTok und YouTube dokumentieren ihre 5-Uhr-Routinen mit ästhetisch perfekten Sonnenaufgängen und minimalistischen Notizbüchern. Der 5AM Club ist nicht nur ein Zeitplan – er ist eine Lifestyle-Marke geworden.

Die Verheißung des frühen Morgens

Die Idee hinter dem frühen Start ist nachvollziehbar. Die Stunden am frühen Morgen gelten als besonders wertvoll:

  • Keine Ablenkungen: Während andere noch schlafen, herrscht Ruhe.
  • Kognitive Frische: Das Gehirn ist nach dem Schlaf regeneriert.
  • Mentale Stärke: Disziplin am Morgen strahlt auf den ganzen Tag aus.

Sharma argumentiert: Wer den Tag in Ruhe und mit Zielstrebigkeit beginnt, agiert souveräner, bleibt fokussierter – und steigert letztlich seinen beruflichen und persönlichen Erfolg.

Zwischen Disziplin und Dogma

Doch so verführerisch dieses Erfolgsversprechen auch ist – es lohnt sich, einen kritischen Blick auf das Konzept zu werfen. Denn die universelle Anwendbarkeit dieser Methode ist höchst fragwürdig.

1. Chronotypen: Der Mensch ist keine Maschine

Nicht jeder Mensch ist biologisch dafür gemacht, früh aufzustehen. Die Chronobiologie unterscheidet zwischen sogenannten „Lerchen“ (Frühaufstehern) und „Eulen“ (Spättypen). Letztere können durch eine erzwungene Frühschicht ihre innere Uhr aus dem Gleichgewicht bringen, was langfristig zu Schlafmangel, Erschöpfung und gesundheitlichen Problemen führen kann.

2. Leistung als Selbstzweck

Der 5AM Club folgt einer Logik, die Produktivität zum höchsten Gut erhebt. Morgensport, Journaling, Weiterbildung – alles dient der Effizienzsteigerung. Doch wo bleibt der Raum für Müßiggang, Intuition, Spontaneität? Die Frage drängt sich auf, ob dieses Modell nicht weniger ein Weg zur Selbstentfaltung, sondern vielmehr ein Ausdruck einer neoliberalen Selbstverwertungskultur ist.

3. Realitätsferne und soziale Blindheit

Der 5AM Club suggeriert: Jeder kann es schaffen – man muss nur früh genug aufstehen. Doch das ignoriert Lebensrealitäten: Schichtarbeiter, Pflegekräfte, Alleinerziehende oder Menschen mit Schlafstörungen können diese Routine schlicht nicht realisieren. Was als Motivation gedacht ist, kann bei anderen Schuldgefühle, Druck und Frustration erzeugen. Selbstoptimierung wird hier zur exklusiven Disziplin für jene mit ausreichend zeitlichen, physischen und psychischen Ressourcen.

Was bleibt vom 5AM Club?

Trotz berechtigter Kritik birgt das Konzept des 5AM Clubs auch wertvolle Impulse:

  • Die Idee, bewusst in den Tag zu starten, statt sofort ins Chaos zu stürzen, ist sinnvoll.
  • Die Konzentration auf Bewegung, Achtsamkeit und Lernen am Morgen kann zu mehr Klarheit führen.
  • Eine strukturierte Morgenroutine kann helfen, mentale Widerstandskraft aufzubauen.

Doch entscheidend ist: Nicht die Uhrzeit macht den Unterschied, sondern die Haltung. Wer um 7 Uhr mit derselben Qualität startet wie andere um 5 Uhr, hat keinen Nachteil – im Gegenteil, er oder sie folgt dem eigenen Rhythmus und damit einer nachhaltigeren Strategie.

Fazit: Inspiration statt Dogma

Der 5AM Club kann für manche Menschen ein echter Gamechanger sein – für andere ist er ein weiterer überhöhter Idealanspruch, der mehr Druck als Nutzen erzeugt. Was Robin Sharma als Universallösung verkauft, ist in Wirklichkeit eine Methode unter vielen.

Wer morgens produktiver sein möchte, sollte sich nicht von der Uhr treiben lassen, sondern eine individuell passende Routine entwickeln. Nicht „wann“ du beginnst, ist entscheidend, sondern „wie“.


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