Seit Beginn des großangelegten russischen Angriffs auf die Ukraine bemühen sich manche Kommentatoren, Intellektuelle und politische Akteure um ein Verständnis der russischen Position, das über bloße Analyse hinausgeht – bis hin zu einer mehr oder weniger offenen Rechtfertigung des Überfalls. Sie verweisen auf Sicherheitsinteressen, historische Traumata, NATO-Erweiterung und kulturelle Verflechtungen. Doch all diese Argumente, so sehr sie im politikwissenschaftlichen Diskurs ihren Platz haben mögen, stehen im klaren Widerspruch zu den Grundprinzipien des modernen Völkerrechts.
Das Völkerrecht kennt im Kern eine zentrale Norm: das Gewaltverbot. Verankert in Artikel 2 Absatz 4 der Charta der Vereinten Nationen, untersagt es jedem Staat, Gewalt gegen einen anderen Staat anzuwenden – gleichgültig, ob offen oder durch subtile, hybride Mittel. Lediglich zwei Ausnahmen sind völkerrechtlich zulässig: zum einen die Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs (Artikel 51), zum anderen eine durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen autorisierte militärische Maßnahme zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens. Weder noch liegt im Falle des Ukraine-Krieges vor.
Die russische Föderation hat weder einen nachweisbaren Angriff erlitten, noch liegt ein UN-Mandat vor. Stattdessen beruft man sich auf „präventive Selbstverteidigung“ und den Schutz russischsprachiger Minderheiten. Doch auch diese Argumente sind rechtlich nicht haltbar. Die präventive Selbstverteidigung ist – anders als manche Staaten behaupten – durch das geltende Völkerrecht nicht gedeckt. Auch der Schutz von Minderheiten erlaubt keine einseitige militärische Intervention, solange kein Völkermord, keine Vertreibung oder systematische Verfolgung in einem Umfang nachweisbar ist, der ein solches Eingreifen rechtfertigen würde – und selbst dann nur im Rahmen eines internationalen Mandats.
Die Argumentation, man habe sich provoziert gefühlt oder man sei von der Westausdehnung der NATO „eingekreist“ worden, hat keine normative Kraft. Sie ersetzt die Rechtslage durch eine psychologisch-politische Begründungslogik, die letztlich zur Auflösung des internationalen Ordnungsrahmens führen würde. Wer einmal den Grundsatz durchbricht, dass allein objektivierbare Rechtsverstöße das ius ad bellum – das Recht zum Krieg – begründen, öffnet der Willkür Tür und Tor. Dann entscheidet nicht mehr das Recht, sondern das Machtkalkül.
Diese Form der Relativierung ist gefährlich. Denn sie verkennt, dass das moderne Völkerrecht – insbesondere nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs – gerade deshalb so strikt formuliert wurde, um staatliche Gewalt unter rationale, überprüfbare Regeln zu stellen. Der Nürnberger Gerichtshof nannte den Angriffskrieg das „schlimmste internationale Verbrechen, da er das Übel aller anderen in sich schließe“. Wer also den russischen Krieg gegen die Ukraine als verständlich oder gar gerechtfertigt darstellt, stellt sich nicht nur gegen die UN-Charta, sondern auch gegen den historischen zivilisatorischen Konsens, der die internationale Ordnung trägt.
Der Verweis auf geopolitische Interessen, auf historische Zusammenhänge oder kulturelle Verbundenheit kann, wenn er analytisch bleibt, hilfreich sein, um die Motivation eines Aggressors zu verstehen. Doch wer diesen Schritt überschreitet und von der Erklärung zur Rechtfertigung übergeht, verlässt den Boden des Rechts. Das Gewaltverbot kennt keine Ausnahmen aus „Gefühl“, „Befindlichkeit“ oder „Empörung“. Es ist kein moralisches Wunschkonzert, sondern eine hart erkämpfte Norm.
Gerade in Zeiten wachsender Unsicherheit und globaler Umbrüche darf man nicht zulassen, dass diese Norm aufgeweicht wird. Der Krieg gegen die Ukraine ist nicht komplex, er ist in völkerrechtlicher Hinsicht eindeutig: ein Bruch des Friedens, ein Angriffskrieg – und damit ein Verbrechen gegen die internationale Ordnung.
Wer militärische Gewalt mit geopolitischen Erzählungen zu rechtfertigen versucht, betreibt nicht Analyse, sondern Apologie. Und wer im Namen vermeintlicher Realpolitik das Gewaltverbot relativiert, untergräbt jene Ordnung, auf deren Fundament auch unsere eigene Sicherheit ruht. Das Völkerrecht ist nicht naiv. Es ist bewusst streng – weil es aus der Geschichte gelernt hat. Und gerade deshalb verdient es unsere entschiedene Verteidigung.