Der Bierdeckel

Der „Bierdeckel“ von Friedrich Merz ist ein prägnantes Symbol für seine Vision einer radikal vereinfachten Steuerpolitik. Im Jahr 2003 präsentierte der damalige CDU-Finanzexperte seine Idee einer Steuererklärung, die so simpel sein sollte, dass sie auf einen Bierdeckel passt. Diese Metapher wurde schnell zum Markenzeichen seiner wirtschaftsliberalen Haltung und prägte die politische Debatte nachhaltig.

Ursprung und Inhalt des Bierdeckel-Konzepts

Die Idee entstand in einem Hamburger Café, wo Merz auf einem Bierdeckel ein vereinfachtes Steuermodell skizzierte. Sein Vorschlag sah einen dreistufigen Einkommensteuertarif vor:

  • 12 % für Einkommen zwischen dem damaligen Grundfreibetrag von 8.000 € und 16.000 €
  • 24 % für Einkommen bis 40.000 €
  • 36 % für Einkommen über 40.000 €

Zudem sollten zahlreiche Steuervergünstigungen, wie die Pendlerpauschale, abgeschafft und die Anzahl der Einkunftsarten reduziert werden.

Im geltenden Steuerrecht liegt der Spitzensteuersatz heute bei 42 % (bzw. 45 % als „Reichensteuer“). Eine Deckelung bei 36 % bedeutet also eine spürbare Entlastung für Topverdiener, insbesondere wenn Kapital- und Mieteinkünfte mit einbezogen werden.

Wegfall von Freibeträgen und Abzugsmöglichkeiten

Ein zentraler Bestandteil des Merz-Modells war die Abschaffung zahlreicher steuerlicher Ausnahmen wie:

  • Pendlerpauschale
  • Werbungskosten
  • Sonderausgaben (z. B. für Kinderbetreuung, Altersvorsorge)
  • steuerliche Förderung bestimmter Lebenssituationen (z. B. Alleinerziehende)

Das bedeutet: Gering- und Mittelverdiener, die auf diese Entlastungen angewiesen sind, verlören konkrete Vorteile. Der scheinbar niedrige Steuersatz könnte also durch fehlende Abzugsmöglichkeiten überkompensiert werden – sie würden unter dem Strich mehr zahlen, obwohl die Sätze niedriger erscheinen.

Lineare Belastung ohne soziale Staffelung

Das Modell ignoriert systematisch die soziale Staffelung, die das deutsche Steuerrecht über Jahrzehnte ausgebildet hat – z. B. durch:

  • Ehegattensplitting
  • Kinderfreibeträge
  • Progressionsvorbehalte

Ein vereinfachtes Steuersystem mag aus Sicht liberaler Marktakteure attraktiv erscheinen, aber es führt zu einer sozial weniger ausbalancierten Verteilung der Steuerlast. Während hohe Einkommen deutlich entlastet werden, steigt die relative Belastung niedrigerer Einkommensgruppen.

Vermögens- und Kapitaleinkommen unbeachtet

Das Merz-Modell differenziert nicht systematisch zwischen Einkommensarten. In der Praxis könnte das bedeuten, dass Kapitaleinkünfte oder Einkommen aus Vermietung und Verpachtung, die bisher unterschiedlich behandelt werden, ebenfalls pauschal günstiger versteuert würden – was wiederum Vermögende klar bevorzugt.

Nachfolgend eine modellhafte Vergleichsrechnung zwischen dem aktuellen Einkommensteuerrecht (vereinfacht dargestellt) und dem Merz-Bierdeckel-Modell. Die Ergebnisse machen deutlich, dass insbesondere höhere Einkommen durch das Merz-Modell deutlich entlastet würden – während Geringverdiener in einigen Fällen sogar mehr Steuern zahlen müssten als heute.

Jahreseinkommen (EUR)Steuer aktuell (EUR)Steuer Merz-Modell (EUR)Differenz (Merz – aktuell)
15000572,88840267,12
250001972,8831201147,12
400004072,8867202647,12
600006872,88139207047,12
10000022887,22283205432,78

Die effektiven Steuersätze zeigen deutlich, dass das Merz-Modell die relative Steuerlast für alle betrachteten Einkommen erhöht – besonders stark jedoch für mittlere Einkommen (z. B. bei 40.000 €: +6,62 Prozentpunkte). Während hohe Einkommen im aktuellen System durch die Progression prozentual mehr beitragen, kehrt sich dies im Merz-Modell um: Die Steuerlast steigt linear an und trifft mittlere Einkommen überproportional.

Diese Berechnung bestätigt den Vorwurf, dass das Bierdeckel-Modell zwar übersichtlich, aber sozial unausgewogen ist.

Jahreseinkommen (EUR)Steuer aktuell (EUR)Steuer Merz-Modell (EUR)Differenz (Merz – aktuell)Effektiver Steuersatz aktuell (%)Effektiver Steuersatz Merz (%)
15000572,88840267,123,825,6
250001972,8831201147,127,8912,48
400004072,8867202647,1210,1816,8
600006872,88139207047,1211,4523,2
10000022887,22283205432,7822,8928,32

Reaktionen und Kritik

Das Konzept stieß auf gemischte Reaktionen. Befürworter lobten die Klarheit und Bürgernähe des Vorschlags. Kritiker hingegen warfen Merz vor, dass sein Modell vor allem Besserverdienende begünstige und das Prinzip der Steuergerechtigkeit untergrabe. Zudem wurde bemängelt, dass der Verzicht auf bestimmte Freibeträge viele Arbeitnehmer benachteiligen könnte.

Merz selbst gestand später ein, dass die auf dem Bierdeckel dargestellte Rechnung fehlerhaft war. Dennoch betonte er den symbolischen Wert des Bierdeckels, der heute im Haus der Geschichte in Bonn ausgestellt ist.

Aktuelle Bedeutung

Obwohl Merz sich in späteren Jahren von der konkreten Umsetzung des Bierdeckel-Modells distanzierte, bleibt die Metapher ein fester Bestandteil seiner politischen Identität. Im Wahlkampf 2025 wurde der Bierdeckel erneut thematisiert, als er während der Sendung „Quadrell“ präsentiert wurde. Ein Missgeschick, bei dem Moderator Günther Jauch den Bierdeckel fallen ließ, sorgte für Aufsehen, blieb jedoch ohne Folgen für das historische Objekt.

Fazit

Das Bierdeckel-Modell ist ein klassisches Beispiel für eine steuerpolitische Vision, die Einfachheit und Transparenz verspricht, dabei jedoch Gerechtigkeitsfragen und soziale Ausgewogenheit weitgehend ausklammert. Es hätte in seiner ursprünglichen Form vor allem hohe Einkommen und Vermögende begünstigt – nicht zuletzt, weil diese Gruppe relativ weniger auf steuerliche Ausnahmeregelungen angewiesen ist und von einem niedrigen Spitzensatz besonders profitiert.


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