In der Welt der Kapitalmärkte gilt ein eiserner Grundsatz: Vergangene Kosten sind irrelevant für zukünftige Entscheidungen. Und doch handeln Privatanleger – aber auch institutionelle Investoren – immer wieder, als wären frühere Investitionen ein moralisches Pfand, das zukünftige Entscheidungen rechtfertigt. Dieses Phänomen ist als Irrtum der versunkenen Kosten bekannt und gehört zu den gefährlichsten Denkfehlern im wirtschaftlichen Handeln. Seine Folgen sind nicht nur psychologischer, sondern auch ökonomischer Natur – und sie sind teuer.
Wer sich einmal für eine Aktie entschieden hat, verbindet damit nicht nur Geld, sondern auch Hoffnungen, Zeit und oft einen gewissen Stolz auf die eigene Einschätzung. Fällt der Kurs jedoch drastisch – sagen wir, um 50 Prozent –, beginnt ein innerer Dialog: „Ich kann doch jetzt nicht verkaufen. Dann habe ich den Verlust realisiert!“ Und genau hier beginnt der Denkfehler.
Denn ob eine Aktie von 100 auf 50 Euro gefallen ist, sollte keinerlei Relevanz für die heutige Entscheidung haben. Was zählt, ist allein die Frage: Wird sie in Zukunft steigen oder weiter fallen? Rational wäre es, die Aktie genauso zu beurteilen wie eine andere – unabhängig vom Einstiegspreis. Doch viele Anleger klammern sich an ihr ursprüngliches Investment, als ließe sich durch bloßes Durchhalten der verlorene Wert wiederherstellen.
Dieses Verhalten hat gravierende Folgen. Denn statt das Kapital umzuschichten – etwa in eine Aktie mit besseren Zukunftsaussichten oder in ein anderes Anlageinstrument –, wird es weiter in einem stagnierenden oder sogar verlustbringenden Wertpapier gebunden. In der Folge sinkt nicht nur die Kapitalrendite, sondern auch die Flexibilität des Anlegers.
Noch prekärer wird es bei Unternehmen, die an strategisch verfehlten Investitionen festhalten. Der Kauf überteuerter Beteiligungen, der Aufbau unrentabler Standorte oder technologische Fehlentscheidungen werden aus falscher Loyalität fortgeführt. Nicht selten lautet das Argument: „Wir haben schon so viel investiert – jetzt müssen wir es zu Ende bringen.“ Doch der Markt honoriert keine Sentimentalität. Er belohnt Effizienz, Weitsicht und die Fähigkeit zur Korrektur.
Diese Haltung ist besonders gefährlich in Zeiten struktureller Umbrüche. Wer sich weigert, frühzeitig Konsequenzen zu ziehen – sei es beim Umstieg auf neue Technologien, der Aufgabe überholter Geschäftsmodelle oder dem Verkauf überbewerteter Assets –, verliert nicht nur Kapital, sondern auch Wettbewerbsfähigkeit. Die Märkte bestrafen Zögerlichkeit, nicht Entschlossenheit.
Dabei wäre die Lösung so einfach wie unbequem: Die Fähigkeit, einen Fehler einzugestehen und daraus zu lernen, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck von Reife. In der marktwirtschaftlichen Ordnung – die auf Wettbewerb, Verantwortung und Anpassungsfähigkeit basiert – ist der Irrtum ein legitimer Bestandteil des Fortschritts. Irrational ist nicht der Verlust, sondern das Festhalten daran.
Wer klug handelt, bewertet jede Investition aus der Perspektive der Gegenwart und der Zukunft, nicht durch die Linse der Vergangenheit. Auch der Preis, zu dem eine Aktie einst erworben wurde, ist ein historischer Fakt – aber kein Entscheidungsmaßstab. Wer sich auf vergangene Kosten beruft, ist nicht rational, sondern retrospektivistisch. Und wer aus bloßer Hoffnung oder Stolz investiert, ist kein Anleger, sondern ein Spieler.
Deshalb ist der Irrtum der versunkenen Kosten nicht nur ein psychologisches Phänomen, sondern auch ein Prüfstein ökonomischer Mündigkeit. Wer ihn überwindet, handelt nicht herzlos, sondern verantwortungsvoll. Denn Kapital, das nicht effektiv arbeitet, ist totes Kapital – gleichgültig, wie viel Mühe man hineingesteckt hat.
Der Kapitalmarkt belohnt nicht den, der an der Vergangenheit hängt, sondern den, der bereit ist, aus ihr zu lernen – und sie loszulassen.