Seit Jahren hält sich in den Chefetagen der Geldpolitik ein hartnäckiger Mythos: Wenn die Börsen steigen, öffnet der Bürger seine Geldbörse. Der sogenannte Wealth Effect – die Idee, dass höhere Aktienkurse den Konsum ankurbeln, weil sich Anleger reicher fühlen – gilt vielen als wirtschaftliches Gesetz. Barry Ritholtz, Gründer von Ritholtz Wealth Management, zerlegt diese Vorstellung in seinem Essay „Revisiting the Wealth Effect“ jedoch als das, was sie seiner Meinung nach ist: eine Fehlinterpretation von Ursache und Wirkung.
Für Ritholtz ist die Vorstellung, steigende Aktienkurse seien der Motor des Konsums, ökonomisch wie psychologisch unhaltbar. Nicht die Börsen befeuern die Ausgaben der Verbraucher, sondern die realwirtschaftlichen Grundlagen – Beschäftigung, Löhne, Kredite und stabile Preise. „Spending doesn’t go up because stocks are up,“ schreibt er, „it’s the same contemporaneous elements that power a bull market that also drive spending.“ Kurz gesagt: Wohlstand entsteht nicht durch Kursgewinne, sondern durch produktive Arbeit.
Auch die Verteilungsrealität spricht gegen die These eines breiten Börsenwohlstands. 87 Prozent des Aktienvermögens liegen in den Händen der obersten zehn Prozent der Amerikaner. Die unteren 90 Prozent – jene, deren Konsum für die Binnenwirtschaft entscheidend ist – besitzen zusammen gerade einmal 13 Prozent. Es ist daher schlicht unplausibel, dass steigende Aktienkurse den Konsum der Mehrheit signifikant beeinflussen.
Etwas anders sieht es beim Immobilienmarkt aus: Hier besitzen die unteren 90 Prozent rund 87 Prozent des Wohnungsvermögens. Wertsteigerungen bei Immobilien können somit tatsächlich breitere Effekte entfalten – allerdings begrenzt, da die untere Hälfte der Haushalte, meist Mieter, kaum davon profitiert. Auch dieser reale „Wealth Effect“ bleibt also ungleich verteilt und ökonomisch abgeschwächt.
Ritholtz sieht darin nicht nur ein Missverständnis, sondern eine gefährliche Schieflage in der Wirtschaftspolitik. Die US-Notenbank orientiere sich zu stark an den Börsenkursen, statt an der Lage der Konsumenten. Diese Fixierung auf Vermögenspreise verstärke die Illusion einer florierenden Wirtschaft, während weite Teile der Bevölkerung unter stagnierenden Löhnen und hohen Lebenshaltungskosten leiden. Wer den Aktienmarkt als Wohlstandsbarometer interpretiert, verwechselt die Fassade mit dem Fundament.
Einordnung:
Ritholtz’ Kritik trifft einen wunden Punkt der modernen Geldpolitik. Sie richtet sich weniger gegen die Märkte als gegen ihre Überhöhung. In einer Wirtschaft, die von der Nachfrage der Mittelschicht lebt, ist das Vertrauen auf Kursgewinne als Wachstumstreiber ein riskantes Experiment. Der „Wealth Effect“ ist in dieser Lesart kein Motor, sondern ein Spiegel – er zeigt, wie ungleich Wohlstand verteilt ist.
Schlussgedanke:
Wer wirtschaftliche Stabilität will, sollte weniger auf das Parkett schauen und mehr auf die Lohnzettel. Nicht der DAX oder der S&P 500 entscheiden über den Wohlstand eines Landes, sondern die Kaufkraft seiner Bürger.
