Nach Ray Dalios Theorie des „Big Cycle“ befinden sich die Vereinigten Staaten – und mit ihnen die westliche Ordnung insgesamt – aktuell in den Phasen 5 und 6 des Zyklus: „Innere Zerwürfnisse und Polarisierung“ sowie „Externer Druck und geopolitische Konfrontation“. Diese kritische Doppelphase markiert laut Dalio den Übergang vom Zenit hegemonialer Macht in Richtung deren möglichem Niedergang. Europa, insbesondere die EU, lässt sich mit gewissen Einschränkungen ebenfalls in diesem Bereich verorten, wenngleich mit weniger geopolitischer Schwere.
Phase 5: Innere Zerwürfnisse und Polarisierung
Diese Phase ist gekennzeichnet durch tiefgreifende gesellschaftliche Spaltungen und wachsende politische Unversöhnlichkeit. Die Symptome in den USA – und zunehmend auch in Europa – sind laut Dalio unübersehbar:
- Wachsende soziale Ungleichheit: Die Vermögensverteilung hat sich dramatisch zugunsten der obersten Einkommensschichten verschoben. Der Mittelstand schrumpft, während große Teile der Bevölkerung in wirtschaftlicher Unsicherheit leben.
- Verlust gemeinsamer Werte: Gesellschaftlicher Konsens über Grundfragen wie Nation, Geschichte, Identität und Ordnung ist weitgehend erodiert. Stattdessen dominieren identitätspolitische Konflikte, moralischer Relativismus und Lagerdenken.
- Vertrauensverlust in Institutionen: Parlamente, Justiz, Medien und Wissenschaft verlieren an Autorität. Populistische Bewegungen – sowohl von links als auch rechts – greifen dieses Misstrauen auf und delegitimieren die etablierte Ordnung.
- Zunehmende politische Gewaltbereitschaft: Die Ereignisse rund um den Sturm auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021, aber auch linke Gewalteskalationen (etwa bei Antifa-Protesten) sind nach Dalio Anzeichen für ein gefährlich sinkendes Maß an zivilisatorischer Selbstbindung.
Phase 6: Externer Druck und geopolitische Konfrontation
Parallel zu den inneren Spannungen wächst der Druck von außen – mit China als zentralem Herausforderer der US-Hegemonie:
- Wirtschaftliche Rivalität: Der technologische Wettlauf (z. B. Halbleiter, Künstliche Intelligenz) ist längst zu einem Systemkonflikt geworden. Sanktionen, Exportkontrollen und Subventionskriege bestimmen die Handelsbeziehungen.
- Monetäre Konkurrenz: Chinas Bemühungen zur Internationalisierung des Renminbi, insbesondere im Rahmen der BRICS-Staaten und bilateraler Energieabkommen, zielen direkt auf die Schwächung der Dollar-Dominanz.
- Militärische Spannungen: Das Taiwan-Szenario, das Südchinesische Meer, aber auch die Neuformierung geopolitischer Allianzen (AUKUS, Quad vs. Shanghai Cooperation Organisation) deuten auf eine zunehmende Blockbildung hin.
- Dekadenz und Überdehnung: Die USA und der Westen geben laut Dalio ein Bild der Selbstüberforderung ab: militärisch global präsent, finanziell hochverschuldet, gesellschaftlich zerstritten – das klassische Bild einer überdehnten Hegemonialmacht.
Wo steht China?
Aus Dalios Perspektive ist China bereits in Phase 3 („Erreichen der Hegemonie“) oder Übergang zu Phase 4. Das Reich der Mitte zeigt wirtschaftliche Dynamik, Innovationskraft, staatliche Kontrolle über strategische Industrien und eine klar definierte geopolitische Vision („Neue Seidenstraße“, „Dual Circulation Strategy“). Noch fehlt es allerdings an weltweiter Akzeptanz der chinesischen Währung und an ideologischer Attraktivität – beides Bedingungen für eine vollständige hegemoniale Ablösung.
Die Schwelle zur Zeitenwende
Wir befinden uns – folgt man Dalios Modell – in einer hochvolatilen, prekären Übergangsphase. Der bestehende Hegemon USA ist innerlich geschwächt und von außen herausgefordert. Der aufstrebende Rivale China ist stark, aber noch nicht konsolidiert. Die Ordnung ist im Fluss, aber noch nicht zusammengebrochen. In dieser Übergangszone können Reformen, Katastrophen, Kriege oder technologische Sprünge entscheidend werden. Es ist die Phase, in der – historisch betrachtet – sich entscheidet, ob ein Hegemon durch Anpassung überlebt oder von einem neuen System verdrängt wird.
Aus einer konservativ-marktwirtschaftlichen Perspektive könnte man formulieren: Der Westen steht am Scheideweg zwischen Dekadenz und Erneuerung. Die Frage ist, ob er die Kraft aufbringt, seine produktiven Grundlagen, seine moralische Substanz und seine institutionelle Stabilität zu revitalisieren – oder ob er sich dem Lauf der Geschichte ergibt.
Sollte Ray Dalios Theorie des „Big Cycle“ zutreffen – insbesondere seine Diagnose, dass sich die Weltordnung derzeit in einer Umbruchphase zwischen einem absteigenden Westen (unter US-Führung) und einem aufsteigenden Osten (unter chinesischer Dominanz) befindet –, dann ergeben sich für Deutschland weitreichende und tiefgreifende Konsequenzen. Diese betreffen nicht nur die Außenpolitik und Geopolitik, sondern vor allem auch die strategische Wirtschaftsordnung, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Selbstverständnis der Bundesrepublik als westlich verankerte, ordnungspolitisch ausgerichtete Industrienation.
1. Die geopolitische Abhängigkeit Deutschlands wird zur Achillesferse
Deutschland ist – stärker als viele andere Länder – strukturell vom Bestand einer regelbasierten, von den USA garantierten Weltordnung abhängig. Der deutsche Wohlstand basiert auf:
- offenen Handelswegen,
- funktionierenden internationalen Institutionen (WTO, IWF, NATO),
- sicherheitsstrategischer Rückendeckung durch die USA,
- einem stabilen multilateralen Umfeld.
Ein Abstieg der USA aus ihrer hegemonialen Stellung – begleitet von zunehmender Instabilität, geopolitischen Spannungen und möglicherweise protektionistischen Blockbildungen – würde das exportorientierte deutsche Modell empfindlich treffen. Bereits heute ist sichtbar, wie abhängig Berlin von US-amerikanischen Sicherheitsgarantien (NATO-Nuklearschirm, Truppenpräsenz) geblieben ist, während gleichzeitig der Rückgriff auf außenpolitische Souveränität – etwa durch eine europäische Verteidigungsunion – stockt.
Ein möglicher Rückzug der USA aus Europa, sei es durch Isolationismus oder Priorisierung des Indo-Pazifiks, würde Deutschland sicherheitspolitisch entblößen. Eine massive Aufrüstung wäre die Folge – mit entsprechenden innergesellschaftlichen und fiskalischen Verwerfungen.
2. Ökonomische Vulnerabilität in einer blockierten Weltordnung
Die deutsche Industrie – insbesondere Maschinenbau, Chemie, Automobilwirtschaft – ist aufs Engste mit globalen Lieferketten, asiatischen Absatzmärkten und westlicher Technologiepartnerschaft verflochten. In einer Welt zunehmender geopolitischer Fragmentierung müsste Deutschland wirtschaftspolitisch schwierige Entscheidungen treffen:
- Bindung an China: Der größte Exportmarkt für deutsche Autos und Maschinen. Doch das birgt politische Abhängigkeit und Reputationsrisiken.
- Bindung an die USA: Politisch stabiler, technologisch führend – aber zunehmend protektionistisch und mit harten Anforderungen an strategische Loyalität.
- Autonomisierung Europas: Strategisch wünschenswert, aber wirtschaftlich schwerfällig und technologisch rückständig (Stichwort Digitalisierung, KI, Rüstung).
Deutschland läuft Gefahr, in einen Spagat zwischen geopolitischen Loyalitäten und wirtschaftlicher Realpolitik gezwungen zu werden – ohne über die notwendige strategische Souveränität zu verfügen.
3. Gesellschaftlicher Erosionsdruck in Phase 5 des Zyklus
Auch innergesellschaftlich zeigt Deutschland bereits Merkmale jener „fünften Phase“, die Dalio beschreibt:
- Polarisierung des politischen Diskurses: Die Entfremdung zwischen urbanem, kosmopolitischem Milieu und konservativer Provinz ist greifbar.
- Erosion des Vertrauens in Institutionen: Regierung, Parteien, Medien und Gerichte stehen unter Generalverdacht großer Teile der Bevölkerung.
- Demografischer und bildungspolitischer Niedergang: Fachkräftemangel, Rückgang der Leistungsbereitschaft, sinkende Standards in Schulen und Universitäten unterminieren langfristig Produktivität und Innovationskraft.
- Fehlgeleitete Schuldenpolitik: Die Schuldenbremse wird zunehmend relativiert, langfristige Staatsverpflichtungen wachsen, ohne durch produktive Investitionen gedeckt zu sein.
Diese Entwicklungen sind mit jenen Mechanismen verwandt, die Dalio als Vorboten des relativen Niedergangs identifiziert – etwa in der Endphase des britischen Empires oder der späten römischen Republik.
4. Was wäre zu tun? – Konservativ-marktwirtschaftliche Perspektive
Wenn man Dalios Zyklus nicht als unabwendbares Schicksal, sondern als mahnendes Muster begreift, dann ist Deutschland jetzt an einem Punkt, an dem politisches Gegensteuern möglich – und dringend geboten – ist. Es bedarf eines tiefgreifenden mentalen und institutionellen Regroundings. Dazu gehören:
- Rückbesinnung auf ordnungspolitische Prinzipien: Haushaltsdisziplin, Eigentumsschutz, Subsidiarität, Leistungsgerechtigkeit.
- Stärkung strategischer Autonomie: in Energie, Verteidigung, Digitalisierung und Infrastruktur.
- Wiederherstellung gesellschaftlicher Kohäsion: durch Integrationspolitik, Bildungsoffensiven und klare kulturelle Leitbilder.
- Geopolitischer Realismus: Deutschland muss lernen, Interessen zu definieren – nicht nur Normen zu propagieren.
Fazit
In Dalios zyklischer Lesart lebt Deutschland heute am Rande eines globalen Ordnungsumbruchs, dem es als „Strukturgewinner“ der Nachkriegsordnung besonders exponiert gegenübersteht. Die kommenden Jahre werden entscheiden, ob das Land fähig ist, sich neu zu positionieren – als resiliente Industrienation mit strategischem Weitblick und gesellschaftlichem Rückgrat. Ein passives Verharren im Status quo wäre nicht nur gefährlich – es wäre, im Lichte von Dalios Analyse, der Weg in den Abstieg.