Die wirtschaftliche Lage der Bundesrepublik Deutschland ist ernst – und sie wird von der politischen Klasse und weiten Teilen der Gesellschaft noch immer unterschätzt. Die Analysen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) legen schonungslos offen, was sich seit Jahren abzeichnet: Die deutsche Volkswirtschaft befindet sich nicht nur in einer Konjunkturdelle, sondern in einem strukturellen Abstieg. Drei Jahre der Stagnation, eine Industrie in der Krise, sinkende Produktivität und hohe Arbeitskosten: Das Fundament des einstigen „Exportweltmeisters“ bröckelt.
Während die offizielle Arbeitslosenzahl mit über drei Millionen auf dem höchsten Stand seit über einem Jahrzehnt liegt, wiegeln führende Wirtschaftsexperten ab: Die Situation sei nicht mit der Krise der 2000er Jahre vergleichbar. Damals sei der Arbeitsmarkt verkrustet gewesen, heute sei es nur die Konjunktur. Doch diese Argumentation ist bequem – und gefährlich. Denn sie verkennt, dass Deutschland inzwischen mit einer Vielzahl an Strukturproblemen konfrontiert ist, die eine bloße Erholung durch Konjunkturzyklen zunehmend unwahrscheinlich machen.
Ein Blick auf die Zahlen aus dem IW-Trendbericht offenbart die ganze Tragweite der Entwicklung: Die deutschen Lohnstückkosten lagen im Jahr 2024 um 22 Prozent über dem Schnitt der Vergleichsländer und 15 Prozent über dem Euro-Ausland. Das bedeutet, dass deutsche Unternehmen mehr für dieselbe Leistung zahlen müssen als ihre internationalen Wettbewerber – eine gravierende Schwäche in einem globalisierten Markt. Zwar ist die deutsche Industrie hochproduktiv, doch reicht diese Produktivität längst nicht mehr aus, um die überbordenden Arbeits- und Energiekosten auszugleichen.
Der vielfach beschworene „Innovationsstandort Deutschland“ wirkt zunehmend wie ein Relikt vergangener Zeiten. Die Automobilindustrie – das Rückgrat der deutschen Industrie – verliert rapide an Boden gegenüber Konkurrenten aus Asien, allen voran China. Technologische Alleinstellungsmerkmale schwinden, insbesondere im Bereich Elektromobilität und Digitalisierung. Selbst im Premiumsegment beginnt China, deutsche Hersteller herauszufordern. Gleichzeitig steigen in Deutschland die Produktionskosten unaufhaltsam – nicht nur durch Löhne, sondern durch eine irrwitzige Abgabenlast, überzogene Regulierung und eine Energiepolitik, die weder marktwirtschaftlich noch technologisch sinnvoll ist.
Das IW warnt zu Recht vor dem demografischen Tsunami, der in den kommenden Jahren über den deutschen Arbeitsmarkt hereinbrechen wird. Zwei Millionen Menschen mehr gehen bis 2029 in Rente, als junge Erwerbspersonen nachrücken. Dieses strukturelle Ungleichgewicht kann nicht durch Zuwanderung oder Automatisierung allein ausgeglichen werden – erst recht nicht, wenn der Staat gleichzeitig die Sozialabgaben weiter in die Höhe treibt. Bereits heute drohen die Sozialversicherungsbeiträge bis 2035 auf knapp 49 Prozent zu steigen. Was das für die Lohnnebenkosten und damit für die Beschäftigung bedeutet, kann sich jeder ausrechnen.
Besorgniserregend ist auch der zunehmende Investitionsverzicht, sowohl von inländischen als auch von ausländischen Unternehmen. Der Rückgang der Direktinvestitionen um 17 Prozent innerhalb eines Jahres ist ein Alarmsignal, das man nicht ignorieren darf. Er zeigt: Deutschland verliert an Attraktivität als Standort. Grund hierfür sind nicht nur die bekannten strukturellen Probleme, sondern auch eine zunehmend erratische Wirtschaftspolitik. Der European Policy Uncertainty Index zeigt für Deutschland einen Rekordwert – die wirtschaftliche Verunsicherung ist doppelt so hoch wie im europäischen Durchschnitt. Dass dieser Wert inmitten der zweiten Amtszeit von Donald Trump in den USA gemessen wurde, spricht Bände über das Vertrauen in die deutsche Wirtschaftsordnung.
Der Arbeitsmarkt erweist sich bislang als erstaunlich stabil – zumindest auf den ersten Blick. Die IW-Beschäftigtenbefragung zeigt, dass die überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmer sich um ihren Arbeitsplatz keine Sorgen macht. Diese subjektive Zuversicht ist bemerkenswert angesichts der düsteren makroökonomischen Indikatoren. Doch sie ist trügerisch. Denn der Anstieg der Arbeitslosigkeit speist sich derzeit nicht aus Massenentlassungen, sondern aus einem Rückgang der Neueinstellungen. Ein Stillstand, der schleichend in eine Abwärtsspirale münden kann.
Die Bundesregierung steht vor einem historischen Scheideweg. Weiter so ist keine Option. Deutschland benötigt eine wirtschaftspolitische Kehrtwende – hin zu mehr Investitionsfreundlichkeit, steuerlicher Entlastung, Technologieoffenheit und einer aktiven Industriepolitik, die marktwirtschaftlich denkt und handelt. Die lähmende Mischung aus ideologiegetriebener Regulierung, fiskalischem Interventionismus und planerischer Selbstüberschätzung muss endlich überwunden werden.
Andernfalls droht Deutschland nicht nur der Verlust seiner industriellen Basis, sondern auch der gesellschaftliche Konsens über Wohlstand und soziale Sicherheit. Wer heute noch glaubt, es handle sich lediglich um eine vorübergehende Schwächephase, verschließt die Augen vor der Realität. Es ist Zeit, die Probleme beim Namen zu nennen – und zu handeln. Jetzt.