Es ist schon bemerkenswert, mit welcher Nonchalance Teile der politischen Linken die DDR heute in die Rumpelkammer der Geschichte verbannen – allerdings nicht als „ihr“ Projekt, sondern als etwas gänzlich anderes. „Kein Sozialismus“, heißt es dann in entschiedener Pose, „sondern Sozialismus von oben“. Ein hübscher Kniff: Man erklärt das gescheiterte Experiment kurzerhand für unzuständig. Und schon bleibt die eigene Utopie rein und unangetastet. Wenn die Praxis nicht passt, wird sie eben zur Theorieabweichung erklärt.
Wer jedoch nüchtern hinschaut, kommt um eine unbequeme Tatsache nicht herum: Die DDR war selbstverständlich ein sozialistischer Staat. Sie verstand sich so, sie nannte sich so, sie wurde so verwaltet. Planwirtschaft, Kollektivierung, Parteidiktatur – das war kein Betriebsunfall, sondern das exakte Programm, das Marx und Lenin im Gepäck der Geschichte hinterlassen hatten. Wer also behauptet, Sozialismus sei „etwas ganz anderes“, betreibt Geschichtskosmetik in Reinform.
Natürlich lässt sich einwenden: Echte Demokratie, Mitbestimmung, Selbstbefreiung der Arbeiterklasse – das alles fehlte. Aber genau hier liegt der Kern der Kritik: Warum fehlte es? Weil sozialistische Systeme, sobald sie sich in die Wirklichkeit wagen, autoritäre Züge entwickeln müssen, um überhaupt funktionsfähig zu bleiben. Wer private Initiative unterbindet und wirtschaftliche Freiheiten abschafft, muss den gesellschaftlichen Druck an anderer Stelle abdichten. Wo Markt und Wettbewerb nicht steuern dürfen, greift zwangsläufig die Partei durch. Die DDR war also nicht ein „verunglückter Sozialismus“, sondern die logische Konsequenz eines Systems, das Gleichheit verordnet, aber Freiheit fürchtet.
Es hat ja eine gewisse Tragikomik, wenn heutige Politiker – oft ohne persönliche Erfahrung des Ostens – erklären, die DDR sei nicht „ihr“ Sozialismus gewesen. Millionen Ostdeutsche, die im Schatten der Mangelwirtschaft, der Reiseverbote und der Stasi lebten, dürfen sich da nur verwundert die Augen reiben. Es ist leicht, in einem demokratischen Rechtsstaat über „Sozialismus von unten“ zu schwärmen. In der Realität von drüben galt: Von unten kam gar nichts, außer Frust, Anpassung und Flucht.
Der rhetorische Trick, die DDR aus dem sozialistischen Begriffskosmos auszusperren, hat noch eine zweite Funktion: Er soll das eigene Modell retten. „Demokratischer Sozialismus“ klingt harmlos, ja fast kuschelig – ein bisschen Umverteilung, ein bisschen Mitbestimmung, viel Gerechtigkeit. Doch die entscheidende Frage bleibt: Wie soll eine Wirtschaftsordnung aussehen, die Eigentum massiv beschneidet, Märkte neutralisiert und gleichzeitig Freiheit, Pluralismus und Grundrechte hochhält? Die Erfahrung der Geschichte zeigt, dass genau dieser Spagat bisher nirgends gelang.
Das Mantra „Die DDR war kein Sozialismus“ ist also weniger Analyse als Schutzbehauptung. Man immunisiert die Idee gegen Kritik, indem man jede missratene Umsetzung kurzerhand aus der Familie verstößt. Nordkorea? Kein Sozialismus. Kuba? Auch nicht. Venezuela? Nur ein Betriebsunfall. Auf diese Weise bleibt der Sozialismus ein ewiges Versprechen, das niemals eingelöst, aber auch niemals widerlegt werden kann. Eine Ideologie auf Dauerabo.
Die Pointe dieser Debatte liegt darin, dass sich die Linke so von ihrer eigenen Geschichte abkoppelt, dass sie politisch unglaubwürdig wirkt. Wer ernsthaft eine „andere Gesellschaftsordnung“ propagieren will, muss sich mit den realen Konsequenzen ihrer bisherigen Versuche auseinandersetzen. Alles andere ist intellektuelles Schönfärben.
Die DDR war Sozialismus – ob man will oder nicht. Sie war die praktische Umsetzung jener Ideen, die von einer besseren, gerechteren Welt träumten und am Ende eine Mauer errichteten. Wer das bestreitet, verwechselt Wunschdenken mit Geschichtsschreibung. Und macht aus einer gescheiterten Ideologie ein unantastbares Märchen.
Der Satz „DDR war kein Sozialismus“ ist weniger Erkenntnis als Ausrede. Er entlastet die Idee, er verschiebt Verantwortung, er vernebelt historische Klarheit. Die Wahrheit ist schlichter, aber auch unbequemer: Sozialismus scheitert nicht, weil er falsch angewendet wird. Er scheitert, weil er angewendet wird.