Deutschland steht aktuell vor fundamentalen wirtschaftlichen Herausforderungen, die das traditionelle Erfolgsmodell einer exportgetriebenen Volkswirtschaft zunehmend infrage stellen. Der ehemalige Wirtschaftsweise Bert Rürup und Handelsblatt-Chefökonom Sebastian Matthes zeichnen ein differenziertes Bild dieser Problematik. Nach Jahren anhaltenden Wachstums ist die deutsche Wirtschaft in eine Phase der Stagnation eingetreten, bedingt durch strukturelle Veränderungen und eine zunehmend komplexe geopolitische Lage.
Zentrales Element dieser Krise ist das Ende des Modells eines exportorientierten Wachstums, das über 130 Jahre lang den Wohlstand Deutschlands sicherte. China, einst ein wichtiger Absatzmarkt, wandelt sich zunehmend zum scharfen Wettbewerber in Schlüsselindustrien wie Maschinenbau, Chemie und Automobilbau. Zudem erschweren geopolitische Spannungen, etwa zwischen China und den USA, die Fortsetzung globaler Handelsstrukturen, wie etwa durch die faktische Blockade neuer Richterstellen bei der WTO deutlich wird. Eine Rückkehr zu den „goldenen Jahren“ scheint ausgeschlossen.
Parallel dazu verzeichnet der industrielle Sektor Deutschlands dramatische Arbeitsplatzverluste; jeden Monat verschwinden rund 10.000 Industriejobs. Zwar wird dieser negative Trend teilweise durch einen stark expandierenden öffentlichen Sektor kompensiert, doch verbirgt dies lediglich das eigentliche Problem: die schleichende Zunahme struktureller Arbeitslosigkeit gerade bei hochqualifizierten Fachkräften im Industriesektor.
Der demografische Wandel verschärft diese Lage zusätzlich. Die rapide Alterung der Bevölkerung belastet die Sozialsysteme enorm, vor allem das Rentensystem, das schon jetzt an die Grenzen der Finanzierbarkeit stößt. Sozialbeiträge könnten bald auf über 42 Prozent steigen, während das Erwerbspersonenpotenzial kontinuierlich schrumpft. Ohne grundlegende Reformen droht das soziale Sicherungsnetz zu kollabieren.
Eine weitere Herausforderung besteht in der stagnierenden Produktivitätsentwicklung, gekoppelt mit einem Mangel an qualifizierter Zuwanderung. Obwohl jährlich etwa 400.000 Fachkräfte benötigt würden, zieht Deutschland im internationalen Vergleich kaum ausreichend Talente an. Hohe Steuerlasten, komplexe Regulierungen sowie vergleichsweise hohe Energiekosten mindern die Attraktivität Deutschlands als Standort für internationale Unternehmen und Fachkräfte erheblich.
Zur Bewältigung dieser Krise schlägt Bert Rürup eine Reihe konkreter Maßnahmen vor. Er priorisiert insbesondere Investitionen in den Kapitalstock sowie in das Humankapital, speziell bei Führungskräften und intellektuellen Spitzenpositionen. Darüber hinaus sind steuerliche Anreize für private Investitionen unumgänglich. Dazu gehören verbesserte Abschreibungsbedingungen und langfristig reduzierte Unternehmenssteuersätze. Eine Steuerpolitik, die Deutschland langfristig als attraktiven Investitionsstandort etabliert, ist dringend erforderlich.
Die Reform der Sozialsysteme, insbesondere der Rentenversicherung, erscheint ebenso unausweichlich. Eine kapitalgedeckte Säule könnte die Finanzierbarkeit des Rentensystems sichern, auch wenn die Übergangsphase hohe Investitionen verlangt. Gleichzeitig bedarf es gezielter Anreize, um internationale Spitzenkräfte nach Deutschland zu holen. Vorschläge reichen von temporären Steuervergünstigungen für hochqualifizierte Arbeitnehmer bis hin zur Schaffung hochdotierter Forschungsstellen und Lehrstühle.
Entscheidend ist auch eine Neuausrichtung der deutschen Wirtschaftspolitik hin zu Zukunftstechnologien wie Künstliche Intelligenz, Biotechnologie, erneuerbare Energien und Quantencomputing. Rürup plädiert hier für Clusterbildung, in denen universitäre Forschung, innovative Unternehmen und Finanzinvestoren eng vernetzt agieren. Parallel dazu ist es nötig, die gesellschaftliche Einstellung gegenüber unternehmerischem Risiko und Scheitern zu verändern, um eine robustere Gründerkultur zu etablieren.
Allerdings stehen diesen ambitionierten Reformen politische Realitäten entgegen. Die alternde Wählerschaft prägt zunehmend das politische Handeln und verhindert tiefgreifende strukturelle Veränderungen, die mit Unsicherheiten verbunden sind. Die aktuelle politische Kommunikation vermeidet klare Ansagen über Risiken und notwendige Einschnitte, was zu einer gewissen Stagnation bei notwendigen Reformen beiträgt.
Trotz dieser Herausforderungen bleibt Bert Rürup vorsichtig optimistisch. Historisch betrachtet habe Deutschland stets Phasen wirtschaftlicher Erholung erlebt. Ziel müsse es nun sein, das aktuelle Trendwachstum von 0,3 Prozent auf 0,8 Prozent zu steigern, was angesichts der globalen und demografischen Rahmenbedingungen bereits eine beträchtliche Leistung darstellen würde.