In der deutschen Finanzpresse macht derzeit ein Beispiel die Runde, das auf den ersten Blick bestechend einfach klingt: Wer seit 1985 monatlich 60 Euro in den Nasdaq 100 investiert hätte, könnte heute eine Million Euro besitzen. Holger Zschäpitz etwa präsentierte diese Rechnung prominent – angeblich, um den Zinseszinseffekt zu illustrieren. Doch was als verlockende Einladung zum langfristigen Sparen erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als stark idealisierte Konstruktion. Die Rechnung ist mathematisch korrekt – aber ökonomisch wie historisch fragwürdig.
Der Zinseszinseffekt: Ein reales Prinzip mit idealisierten Voraussetzungen
Der Zinseszinseffekt ist eine mathematisch saubere und theoretisch äußerst kraftvolle Formel: Wer Erträge regelmäßig reinvestiert, kann sein Kapital über die Zeit exponentiell steigern. Doch diese Wirkung entfaltet sich nur unter ganz bestimmten Bedingungen: konstante Renditen, disziplinierte Wiederanlage, lange Laufzeit und möglichst geringe Störfaktoren wie Gebühren, Steuern oder Marktvolatilität. In der Realität sind diese Voraussetzungen nur selten dauerhaft gegeben – und schon gar nicht über einen Zeitraum von 40 Jahren hinweg.
Die Mär von der „60-Euro-Million“
Zschäpitz‘ Beispiel tut so, als hätte es 1985 bereits ETFs gegeben, die den Nasdaq 100 abbildeten – eine faktisch falsche Annahme. Der Nasdaq 100 als Index wurde zwar 1985 eingeführt, doch börsengehandelte Fonds darauf kamen erst Mitte der 1990er Jahre auf, in Europa gar erst um die Jahrtausendwende. Wer also suggeriert, man hätte seit 1985 bequem per ETF investieren können, konstruiert eine retrospektive Idealwelt, die es nie gab.
Hinzu kommt: Die angenommenen 14,2 % jährlicher Durchschnittsrendite wirken beeindruckend – doch sie basieren auf historischen Höchstwerten und beinhalten oftmals nicht einmal die korrekte Berücksichtigung von Dividenden, Gebühren oder Steuern. Selbst wenn die Zahl stimmt: Konstante jährliche Renditen in dieser Höhe sind die absolute Ausnahme, nicht die Regel.
Inflationsfaktor: Die stille Entwertung der Vermögensillusion
Besonders irreführend ist der Umstand, dass solche Rechenbeispiele fast immer nominal dargestellt werden. Die angebliche „Million“ ist keine Million im Sinne von Kaufkraft – denn über 40 Jahre wirkt selbst eine moderate Inflation von 2 % wie ein säurehaltiger Fluss auf das Kapital. Inflationsbereinigt entspräche die Million von 2025 lediglich rund 450.000 Euro in heutigen Preisen – und das nur bei gleichbleibender Inflation. Bei 3 % wären es sogar nur noch etwa 310.000 Euro.
Diese stillschweigende Entwertung der Zahlen ist kein Zufall, sondern dient der dramatischen Wirkung. Doch wer mit Millionensummen wirbt, ohne die reale ökonomische Bedeutung zu erläutern, betreibt eher finanzielle Illusion als Aufklärung.
Fazit: Finanzbildung braucht Ehrlichkeit, keine Heilsversprechen
Der Zinseszinseffekt ist ein faszinierendes Instrument – aber seine Wirkung ist kein Automatismus. Wer ihn erklären will, sollte dies mit den realistischen Bedingungen tun, unter denen Menschen investieren: schwankende Märkte, emotionale Fehler, Steuern, Inflation, Gebühren und das schlichte Unvermögen, Jahrzehnte lang wie eine Excel-Tabelle zu agieren.
Solche Beispiele wie „Mit 60 Euro zur Million“ sind in ihrer Verkürzung daher nicht hilfreich, sondern gefährlich. Sie nähren falsche Erwartungen, versprechen planbare Reichtümer und vernachlässigen die Widerstände, die reale Menschen und reale Märkte dem Idealbild des exponentiellen Wachstums entgegensetzen.
Wer langfristig Vermögen aufbauen will, braucht weniger reißerische Narrative – sondern nüchterne Information, kritisches Denken und ein gesundes Verständnis davon, wie Kapitalmärkte tatsächlich funktionieren.