Mit dem neuen Gesetzentwurf zur Neugestaltung des Wehrdienstes markiert Verteidigungsminister Boris Pistorius einen Wendepunkt in der deutschen Sicherheitspolitik. In einer geopolitisch zunehmend instabilen Welt setzt der Minister auf eine partielle Rückkehr zur Wehrpflicht – kombiniert mit einer betonten Freiwilligkeit und klaren Verpflichtungsmechanismen. Es ist ein hybrides Modell, das versucht, sicherheitspolitische Notwendigkeit mit gesellschaftlicher Akzeptanz zu versöhnen.
Kern des Vorhabens ist eine Modernisierung des Wehrdienstes: Jungen Männern – beginnend mit dem Jahrgang 2008 – wird verpflichtend, jungen Frauen freiwillig ein Fragebogen zur Erhebung der Wehrdienstbereitschaft zugesendet. Auf dieser Grundlage sollen geeignete Kandidaten zur Musterung eingeladen werden. Im Bedarfsfall, so sieht es der Entwurf vor, kann das Kabinett mit Zustimmung des Bundestages verpflichtende Einberufungen beschließen – auch ohne formellen Spannungs- oder Verteidigungsfall. Die bisherige sicherheitspolitische Schwelle wird damit herabgesetzt.
Pistorius plant, Wehrdienstleistende künftig als Zeitsoldaten einzustufen – mit einem monatlichen Sold von über 2.000 Euro. Sechs Monate Grunddienstzeit bilden die Basis. Das Ziel: Die Bundeswehr soll bis 2029 jährlich 30.000 Dienstleistende aufnehmen können. Langfristig will das Verteidigungsministerium eine Streitkraft von 460.000 Mann aufbauen – bestehend aus 260.000 aktiven Soldaten und 200.000 Reservisten. Zum Vergleich: Derzeit verfügt die Bundeswehr über rund 180.000 Aktive.
Doch nicht nur der sicherheitspolitische Anspruch ist gewaltig – auch die politische Sprengkraft ist erheblich. Die SPD, traditionell skeptisch gegenüber jeder Form militärischer Verpflichtung, ringt mit sich selbst. Besonders der linke Parteiflügel lehnt Zwangselemente ab. Die Jusos versuchten jüngst auf dem Parteitag, jede Form der Verpflichtung kategorisch auszuschließen – ohne Erfolg, aber nicht ohne Wirkung. Pistorius konnte sich mit einem Kompromiss durchsetzen: Pflicht nur im Notfall. Die Union hingegen drängt auf eine gesetzlich fest verankerte Pflichtkomponente – aus Sorge, dass die SPD im Ernstfall politisch zurückscheut.
Der Gesetzentwurf ist in diesem Sinne nicht nur ein sicherheitspolitisches Signal, sondern auch ein Symbol für das Ringen der Republik mit ihrer strategischen Identität. Er bekennt sich zu einer wehrhaften Demokratie – nicht als Reminiszenz an vergangene Wehrpflichtstrukturen, sondern als Antwort auf eine multipolare Welt, in der sich Europa und besonders Deutschland nicht mehr auf die Pax Americana verlassen können. Der Krieg in der Ukraine hat der deutschen Gesellschaft ihre Verwundbarkeit drastisch vor Augen geführt.
Gleichwohl wirft der Entwurf grundlegende Fragen auf: Lässt sich eine Wehrpflicht durch die Hintertür, maskiert als Freiwilligendienst, mit liberalen Freiheitsrechten vereinbaren? Führt der selektive Pflichtansatz nicht zwangsläufig zu sozialen Schieflagen – mit einer höheren Last für bildungsferne und wirtschaftlich benachteiligte Gruppen? Und lässt sich Wehrfähigkeit tatsächlich durch staatlichen Zwang erzeugen – oder vielmehr durch Sinnstiftung und Respekt gegenüber dem Dienst am Gemeinwesen?
Pistorius wagt viel. Seine Pläne sind ambitioniert, politisch risikobehaftet und sicherheitspolitisch rational begründet. Der Entwurf verdient eine offene Debatte – jenseits parteipolitischer Reflexe. Denn klar ist: Eine Demokratie, die nicht bereit ist, sich selbst zu verteidigen, setzt ihre Freiheit aufs Spiel. Die Wehrpflicht neuen Typs könnte – richtig gestaltet – ein Baustein zur Resilienz der Republik werden. Doch sie muss demokratisch legitimiert, gesellschaftlich getragen und politisch ehrlich kommuniziert sein. Sonst droht sie zu scheitern – nicht an der Bedrohung von außen, sondern am Zweifel von innen.