Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) haben Siemens Mobility einen Großauftrag über neue Doppelstock-S-Bahn-Züge erteilt. Das Investitionsvolumen liegt bei rund zwei Milliarden Franken (≈ 2,15 Mrd. Euro). Damit handelt es sich um einen der bedeutendsten Beschaffungsprozesse der SBB in den vergangenen Jahren.
Umfang der Bestellung
Die SBB bestellen zunächst 116 Züge. Davon sind 95 Einheiten für das stark belastete S-Bahn-Netz Zürich vorgesehen, weitere 21 für die Westschweiz. Zusätzlich besteht eine Option auf bis zu 84 weitere Fahrzeuge, die ausgelöst werden können, wenn der geplante Ausbau des Zürcher Netzes umgesetzt wird. Insgesamt könnte Siemens damit bis zu 200 Züge liefern.
Technische Merkmale
Die neuen Fahrzeuge sind durchgängig 150 Meter lang und bieten 540 Sitzplätze. Wesentliche Verbesserungen gegenüber dem aktuellen Rollmaterial sind größere Kapazitäten für Fahrräder, Kinderwagen und Gepäck sowie ein erweitertes Stehplatzangebot. Die Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h entspricht dem heutigen S-Bahn-Standard, liegt aber unterhalb dessen, was im Fernverkehr üblich ist. Das deutet darauf hin, dass der Fokus klar auf Kapazität und Fahrgastkomfort statt auf Geschwindigkeitsreserven liegt.
Standort der Fertigung
Die Züge werden im Siemens-Werk in Krefeld gebaut. Das ist wirtschaftlich nachvollziehbar, erzeugt aber politische Kontroversen in der Schweiz, weil der unterlegene Hersteller Stadler Rail eine Fertigung in der Schweiz vorgesehen hatte. Daraus resultiert öffentlicher und politischer Druck, insbesondere weil Stadler traditionell als wichtiger Partner im Schweizer Rollmaterialmarkt gilt.
Ausschreibungsergebnis und Wettbewerb
Die SBB begründen die Entscheidung mit dem „gemäß Beschaffungsrecht vorteilhaftesten Angebot“. Das lässt offen, ob Preis, technische Lösung oder Lebenszykluskosten ausschlaggebend waren. Die Reaktion von Stadler („große Enttäuschung“) unterstreicht die Brisanz: Stadler hatte auf die nationale Karte gesetzt und verfügt über eine starke Präsenz im Zürcher S-Bahn-Netz (KISS-Flotte seit 2012). Die Ausschreibung zeigt, dass die SBB trotz politischer Sensibilitäten eine strikte Wirtschaftlichkeitsbetrachtung vorgenommen hat – was sachlich richtig, aber kommunikativ heikel ist.
Einbettung in weitere Siemens-SBB-Kooperationen
Parallel zum Zugauftrag wurde ein langfristiger Rahmenvertrag zur Digitalisierung der Schweizer Stellwerke geschlossen. Dieser umfasst Hardware, Software, Dienstleistungen und Schulungen. Diese zeitliche Koinzidenz zeigt, dass Siemens seine Position in der Schweizer Bahnlandschaft strategisch ausbaut und nicht nur als Fahrzeuglieferant, sondern als Infrastrukturpartner auftritt.
Weitere geschäftliche Dimension (manager magazin)
Siemens Mobility profitiert in derselben Phase auch von Aufträgen außerhalb der Schweiz, etwa einer 500-Millionen-Euro-Bestellung in Mitteldeutschland. Diese zusätzliche Information ordnet den Schweizer Auftrag in eine breitere Geschäftsdynamik des Unternehmens ein. Die SBB-Bestellung ist jedoch klar das volumenstärkste Einzelprojekt.
Kritische Würdigung
Drei Punkte verdienen eine genauere Betrachtung:
- Vergabetransparenz: Die Formulierung „vorteilhaftestes Angebot“ bleibt vage. Eine detaillierte Veröffentlichung der Bewertungskriterien wäre sinnvoll, um Diskussionen über Industriepolitik (Schweiz vs. Deutschland) zu entschärfen.
- Lokale Wertschöpfung: Die Entscheidung gegen Stadler schwächt die Schweizer Binnenindustrie; gleichzeitig ist das öffentliche Beschaffungsrecht auf Wettbewerb ausgerichtet. Ein politischer Konflikt ist absehbar, zumal die S-Bahn Zürich als identitätsstiftendes Projekt gilt.
- Realisierungshorizont: Die Inbetriebnahme ab 2030 adressiert steigende Fahrgastzahlen, aber der Zeithorizont ist lang. Kurzfristige Kapazitätsengpässe löst das Projekt nicht.
Gesamtfazit
Siemens hat einen bedeutenden und strategisch wichtigen Großauftrag der SBB gewonnen, der sowohl den Fahrzeugpark der S-Bahn Zürich als auch Teile der Westschweiz modernisiert. Der Beschluss ist technisch und wirtschaftlich schlüssig, aber politisch sensibel, vor allem angesichts der starken heimischen Konkurrenz. Gleichzeitig signalisiert die parallele Zusammenarbeit bei Stellwerken eine vertiefte Partnerschaft zwischen Siemens und der SBB.
