Friedrich Merz hat ein Problem, das nicht nur kommunikativ, sondern auch politisch gefährlich ist: Er vermittelt den Eindruck, auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen zu wollen. In der Frage der Sozialstaatsreform spricht er mit gespaltener Zunge. Mal geißelt er „überbordende Sozialausgaben“ und kündigt harte Einschnitte an, mal beteuert er mit staatsmännischer Gelassenheit, niemand wolle den Sozialstaat „schleifen oder kürzen“. Dieses Hin und Her lässt sich kaum anders beschreiben als eine Schaukelbewegung – und die birgt Risiken für Glaubwürdigkeit und Führungsanspruch.
Zwar ist die Substanz seiner Forderungen im Kern konsistent: Merz hält das Transfersystem für zu teuer und ineffizient, Einsparungen beim Bürgergeld von rund zehn Prozent seien realistisch und notwendig. Auch der Gedanke, den Sozialstaat stärker nach dem Prinzip von „fördern und fordern“ zu organisieren, zieht sich als Leitlinie durch seine Reden. Doch was bleibt in der Öffentlichkeit hängen? Nicht die Zahlen, nicht die ökonomischen Argumente, sondern die widersprüchlichen Formeln. Was der eine Tag als „Kürzung“ wahrgenommen wird, präsentiert Merz am nächsten als „Effizienzsteigerung“. In der Sache mag er sich unverändert zeigen, im Ton wirkt er wankelmütig.
Hier zeigt sich ein altes Muster konservativer Sozialpolitik in Deutschland: Das Spannungsverhältnis zwischen marktwirtschaftlicher Haushaltsdisziplin und der sozialen Schutzfunktion des Staates. Helmut Kohl verstand es in den 1980er Jahren, Reformvorhaben mit einer emotionalen Sprache der „sozialen Balance“ zu unterfüttern. Angela Merkel wiederum praktizierte eine Rhetorik der Nüchternheit, die oft Unschärfen bewusst zuließ, aber kaum offene Brüche zwischen Botschaft und Handlung entstehen ließ. Merz dagegen versucht beides: die Härte des ökonomischen Sparappells und die Sanftheit der sozialen Beruhigung. Gerade dieser Spagat bringt ihn kommunikativ ins Schlingern.
Das Problem ist nicht bloß semantisch. Sprache stiftet Vertrauen – oder zerstört es. Wenn Merz erklärt, fünf Milliarden Euro beim Bürgergeld einzusparen, aber gleichzeitig beteuert, dies seien „keine Kürzungen“, wirkt das wie Wortakrobatik. Für die Betroffenen ist es völlig unerheblich, ob ihre Leistungen durch „Reform“ oder „Kürzung“ reduziert werden. Politische Gegner werden solche Begriffsverschiebungen sofort als Irreführung brandmarken. Und auch Sympathisanten, die Einschnitte befürworten, könnten sich fragen, ob ihr Parteichef nicht den Mut hat, die Dinge beim Namen zu nennen.
Die Schaukelpolitik gefährdet damit nicht nur die Glaubwürdigkeit von Merz, sondern auch die strategische Position der Union. Wer Reformen will, braucht Klarheit und Vertrauen. Wer hingegen den Eindruck erweckt, mal hierhin, mal dorthin zu rudern, schwächt seine Autorität. Es wirkt, als sei die Sprache nicht Ausdruck einer klaren Überzeugung, sondern bloß Reaktion auf Umfragewerte, Medienkritik und innerparteiliche Widerstände. Damit droht Merz in die Falle der Symbolpolitik zu geraten: Er sagt viel, ändert manches an der Oberfläche, doch die Substanz verschwimmt.
Hinzu kommt ein zweiter Aspekt: In einer alternden Gesellschaft, in der der Sozialstaat nicht nur Kostenfaktor, sondern auch Sicherheitsanker ist, darf ein politischer Führer nicht den Eindruck erwecken, er spiele mit den Ängsten der Menschen. Die Rente, die Pflege, die Grundsicherung – all das sind keine abstrakten Posten im Bundeshaushalt, sondern Fragen der Lebenssicherheit. Wer darüber spricht, muss seine Worte sorgfältig wählen. Eine Sprache, die heute Härte signalisiert und morgen Beschwichtigung, kann rasch als Beliebigkeit gedeutet werden. Und Beliebigkeit ist das Gegenteil von Führungsstärke.
Gerade im Vergleich zu früheren CDU-Vorsitzenden fällt die Diskrepanz auf. Helmut Kohl band seine Reformen an die große Erzählung von Einheit und Wohlstand, Merkel an die Pragmatik der Krisenmanagerin. Merz hingegen bleibt im Bild des widersprüchlichen Technokraten, der einerseits den Rotstift zückt, andererseits so tut, als handle es sich nur um Modernisierung. Für die politische Mitte, auf die er angewiesen ist, wirkt das wenig vertrauensbildend.
Am Ende bleibt ein Befund: Friedrich Merz will den Sozialstaat reformieren und Kosten senken – daran besteht kein Zweifel. Doch indem er sich weigert, diese Realität auch offen als Kürzung zu benennen, verliert er an Profil. Die Schaukelbewegung seiner Kommunikation schwächt ihn, wo sie ihn stärken sollte. Reformpolitik braucht Klartext. Merz liefert bislang nur semantische Ausweichmanöver.
03. September 2025, Pressekonferenz nach den Beratungen des Koalitionsausschusses zu Sozialreformen und weiteren Themen
1. Allgemeine Bewertung und Koalitionsklima:
Der Koalitionsausschuss hat sich in einem „ausgesprochen guten Klima“ getroffen und die Themen mit „sehr großer Zuversicht“ angesprochen. Es wurde betont, dass die Gespräche notwendig waren, um nach der „Sommerdepression der Koalition eine neue Herbstkraft zu finden“ und „Klarheit zu schaffen für die nächsten Wochen“. Die Koalition sieht sich in einer „unglaublichen Verantwortung“ und ist „zum Erfolg für unser Land verdammt“. Der Geist des Koalitionsvertrags, „Verantwortung für Deutschland“, wurde mehrfach hervorgehoben. Es gab eine offene und ehrliche Debatte, die die Zuversicht stärkt, „dass wir besser aus diesem Sommer rauskommen als Koalition als wir reingegangen sind.“
2. Bilanz der ersten Monate und zukünftige Herausforderungen:
- Erfolge: Von 62 im Mai vereinbarten Vorhaben wurden bereits „fast 50 verabschiedet auf den Weg gebracht durch die parlamentarischen Verfahren“. Insbesondere wird ein umfangreiches Investitionsförderungspaket und die Reduzierung der Asylanträge um 60% im Vergleich zum Vorjahr (August 2024 vs. August 2025) als bemerkenswerter Erfolg genannt.
- Fehler: Es wurden Fehler eingeräumt, insbesondere bei der Stromsteuer und der Richterwahl, die „besser vorbereitet“ hätten werden müssen.
- Herausforderungen: Die Koalition steht vor der Aufgabe, „die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft“ und die „Zukunftsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme“ zu gewährleisten.
3. Wirtschaftliche Lage und Stärkung der Industrie (Top-Priorität):
Die absolute Top-Priorität der Koalition ist die „Wirtschaft und die Sicherheit von Arbeitsplätzen“. Die Lage wird als „extrem schwierig“ beschrieben, Deutschland stehe „am Scheideweg“ und die „Alarmzeichen sind da“. Die Regierung ist sich einig, dass ohne eine starke Industrie Deutschland nicht funktionieren kann.
- Stahlindustrie: Die deutsche Stahlindustrie befindet sich in einer „schwierigen Situation“ aufgrund hoher US-Zölle und „Dumping Angebote aus China“. Es wird ein „Stahlgipfel“ mit Unternehmen, Gewerkschaften und Bundesländern einberufen, um Wege zum „Erhalt der Stahlproduktion in Deutschland“ zu finden.
- Automobilindustrie: Eine „ganz wichtige emotionale aber auch inhaltliche Weichenstellung“ wird die IAA in der nächsten Woche sein. Die deutsche Automobil- und Zulieferindustrie leidet massiv unter der Krise. Ein „industriepolitischer Dialog Zukunft der Automobilindustrie“ wird initiiert, um technologische Fragen (Antriebstechnologie, autonomes Fahren) und europäische Rahmenbedingungen zu besprechen. Es wird betont, dass „ohne Auto wird Deutschland industriell nicht funktionieren“.
- Weitere Branchen: Auch der Chemie- und Maschinenbausektor benötigen klare Signale und Unterstützung.
- Investitionsförderung: Der „Wachstumsbooster“, eine der größten Unternehmenssteuerreformen der letzten Jahrzehnte, wurde auf den Weg gebracht. Ein „Investitionsbeschleunigungsgesetz“ wird zügig erarbeitet, um Genehmigungsverfahren für Infrastrukturprojekte zu verkürzen, insbesondere durch die Einstufung als „überragendes öffentliches Interesse“. Das Vorbild sind hier die LNG-Terminals.
- Fachkräftesicherung: Um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, soll die „Work and Stay Agentur“ auf Bundesebene zentralisiert werden, um die Anerkennung von Qualifikationen und die Visaerteilung für Fachkräfte zu beschleunigen.
4. Sozialstaatsreform:
Die Koalition ist sich einig, dass der Sozialstaat „erhalten“ bleiben soll, aber „reformbedürftig“ ist. Es geht nicht darum, Leistungen zu „kürzen“ oder den Sozialstaat „abzuschaffen“, sondern ihn in seinen „wichtigsten Funktionen zu erhalten“ und „zukunftsfest“ zu machen.
- Bürgergeld und Grundsicherung: Das Bürgergeld soll „hin zu einer neuen Grundsicherung umgestaltet“ werden. Ziele sind „fördern und fordern“, „Missbrauch unter Kontrolle bringen“ und „Menschen die arbeiten können eine Perspektive öffnen“ in den Arbeitsmarkt. Es wird davon ausgegangen, dass noch in diesem Jahr „die wichtigsten Eckpunkte für eine solche Reform“ vereinbart werden. Diskutiert wird auch die Dysfunktionalität des Arbeitsmarktes mit über 3 Millionen Arbeitslosen bei gleichzeitig hunderttausenden offenen Stellen.
- Einsparungen im Bürgergeld: Eine Zielvorgabe von 5 Milliarden Euro Einsparungen im Bürgergeld wurde genannt, jedoch mit dem Vorbehalt, dass dies vom Wirtschaftswachstum und der Stabilisierung des Arbeitsmarktes abhängt. Es wird betont, dass 100.000 Menschen mehr in Arbeit 1 bis 2 Milliarden Euro einsparen könnten. Es wird auch über „Mitwirkungspflichten“ und mögliche „Konsequenzen“ bei fehlender Mitwirkung gesprochen.
- Soziale Sicherungssysteme: Die Koalition will die sozialen Sicherungssysteme „auf sichere Füße stellen auch für die nächsten Generationen“. Es werden Maßnahmen für die Pflege- und Krankenversicherung besprochen, um Defizite im nächsten Jahr auszugleichen. Die „Sozialstaatskommission“ wird alle staatlichen Leistungen überprüfen, um sie „treffsicher“, „effektiver“ und „Bürokratieärmer“ zu gestalten und Kosten zu sparen.
- Demographischer Wandel: Es wird die Notwendigkeit betont, die „zusätzlichen Lasten“ auf die junge Generation durch den demographischen Wandel zu adressieren, da diese „so nicht fortgeschrieben werden können“.
5. Energiepolitik:
Der „Weg in die erneuerbaren Energien“ soll „fortgesetzt“ werden.
- Energiebedarfsanalyse: Ein weitgehend fertiggestellter „Monitoring Bericht“ zum zukünftigen Energiebedarf, insbesondere Strombedarf, wird analysiert. Basierend darauf werden in der Koalition Vereinbarungen für die zukünftige Energiepolitik getroffen.
- Gaskraftwerke: Die Notwendigkeit von Gaskraftwerken in Deutschland wird diskutiert, um die „Energiestabilität Deutschlands im industriellen wirtschaftlichen Sektor“ zu sichern. Es wird „Tempo Tempo Tempo“ bei der Umsetzung gefordert, auch im Hinblick auf Beihilfeverfahren mit der EU-Kommission.
- Industriestrompreise: Die Dringlichkeit angedachter Industriestrompreise wird betont, auch für kleine und mittelständische Betriebe sowie das Handwerk.
6. Haushalt 2027:
Die Bundesregierung wird mit einer „Lücke von über 30 Milliarden“ im Haushalt 2027 konfrontiert sein, eine „Situation die es noch nie gegeben hat“. Bis zum Ende der Legislaturperiode werden insgesamt 172 Milliarden Euro fehlen.
- Ursachen: Als Gründe werden mangelnder Reformmut und unzureichende Investitionen in wirtschaftlich starken Zeiten genannt, sowie die Belastungen durch Pandemie, Krieg in der Ukraine, Energiekrise und das Sondervermögen für die Bundeswehr.
- Lösung: Die Parteivorsitzenden werden den Prozess zur Schließung der Lücke „gemeinsam steuern“ und sehr schnell ein „Gesamtpaket“ vorlegen. Es wird klar sein, dass „wir alle sicherlich uns etwas abverlangen werden“. Steuererhöhungen wurden bei der Pressekonferenz nicht explizit besprochen, sind aber „damit eben auch noch nicht vom Tisch“.
7. Sonstiges:
- Bundesverfassungsgericht: Die Wahl einer Kandidatin für die frei gewordene Stelle im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichtes wird „zügig erneut auf die Tagesordnung des deutschen Bundestages gesetzt“.
- Persönliche Gespräche: Das „klärende Gespräch“ zwischen dem Bundeskanzler und Barbel Bas am Vorabend, das ursprünglich länger geplant war, aber durch die aktuelle Dynamik an Bedeutung gewann, wurde als „sehr gutes und am Ende bei zwei Bier auch nettes“ Gespräch beschrieben, das zur Klärung von Differenzen beigetragen hat.
8. Ausblick:
Die Koalition sieht sich am Anfang eines schwierigen Weges, auf dem noch „einige Aufgaben“ und „schmerzhafte Entscheidungen“ warten. Dennoch wird mit „gewissem Grundoptimismus“ vorgegangen, da man überzeugt ist, „nur gemeinsam im Ende erfolgreich sein oder gemeinsam scheitern“. Die Zustimmungswerte der Regierung sind mit 22% als „mieser Wert“ erkannt, und es wird der Wunsch geäußert, „nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen, sondern immer wieder das gemeinsam und die Lösung für die Probleme suchen.“