Während Investoren auf der Suche nach Rendite auf immer höher bewertete Technologieaktien starren, öffnet sich am Rand des Marktes eine Tür – leise, aber mit gewaltigem Potenzial. Ein Drittel der Energieunternehmen im Russell 3000-Index wird derzeit unter ihrem Buchwert gehandelt. In einer Zeit, in der die größten Marktteilnehmer wie Berkshire Hathaway über gigantische Barreserven von mehr als 350 Milliarden USD verfügen, stellt sich eine unbequeme Frage: Ist der Markt blind für den fundamentalen Wert?
Diese Bewertungslücke ist nicht nur eine statistische Kuriosität, sondern signalisiert eine grundlegende Diskrepanz zwischen Marktwahrnehmung und ökonomischer Substanz. Öl- und Gasunternehmen wie Murphy Oil, Crescent Energy oder Noble Corp. werden derzeit an der Börse niedriger bewertet, als ihre bilanziellen Vermögenswerte vermuten lassen – klassische “Cigar-Butt”-Situationen, wie sie Ben Graham, der Vater des Value Investing, einst pries.
Ölpreise, Politik und Pessimismus: Eine toxische Mischung
Der Auslöser für diese Entkopplung ist schnell identifiziert: Der Energiesektor befindet sich in der Defensive. Seit der Ankündigung von Importzöllen durch Ex-Präsident Trump im April verlor der Energiesektor im S&P 500 rund 10 %. Der Ölpreis, gemessen an West Texas Intermediate (WTI), fiel zwischenzeitlich auf 55 USD pro Barrel. Zwar folgte eine technische Erholung, doch das Vertrauen in nachhaltige Preisstabilität ist beschädigt.
Zudem drücken geopolitische Unsicherheiten, Produktionsausweitungen seitens OPEC-Staaten und die Angst vor globalen Nachfragerückgängen auf die Stimmung. Der Kapitalmarkt straft die Branche dafür ab – teilweise blind für die inneren Werte.
Buybacks statt Schuldenabbau – Ein Signal aus der Branche
Doch genau in dieser Schwäche erkennen einige Akteure eine Stärke. Kapitalstarke Unternehmen wie Cenovus Energy und Diamondback Energy setzen auf Aktienrückkäufe – und das aggressiv. Cenovus steigerte seine Rückkäufe im zweiten Quartal um das Dreifache auf 178 Mio. CAD. Diamondback-Chef Travis Stice nennt Rückkäufe „die intelligenteste Form der Kapitalallokation“ in der aktuellen Marktphase. Ein klares Signal: Das Management glaubt an eine massive Unterbewertung ihrer eigenen Unternehmen.
Diese Strategie offenbart aber auch eine Schieflage: Nicht alle Unternehmen können sich angesichts niedriger Ölpreise Rückkäufe leisten. Chevron etwa kündigte eine Reduktion seines Programms an, während ExxonMobil – dank robuster Gewinne – weiterhin regelmäßig eigene Aktien zurückkauft. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen: Wer über ausreichend Liquidität verfügt, nutzt den Moment zur Eigenkapitalstärkung.
Wie misst man den wahren Wert?
Doch nicht alle Analysten trauen dem Buchwert. Jeremy McCrea von BMO Capital Markets verweist auf die hohe Volatilität bilanzieller Werte im Rohstoffsektor. Er bevorzugt Bewertungskennzahlen wie Cashflow, EBITDA oder nachgewiesene Reserven. Doch selbst nach diesen Maßstäben seien viele Energieaktien derzeit günstig – vielleicht zu günstig.
McCrea bringt es auf den Punkt: „Die besten Zeitpunkte für ein Engagement im Energiesektor sind oft jene, in denen es sich am unbequemsten anfühlt.“ Und genau in dieser Phase befindet sich der Markt.
Fazit: Eine unbequeme Chance für antizyklische Investoren
Die aktuelle Unterbewertung von Energieaktien stellt kein Versagen des Marktes dar – sie ist Ausdruck eines tiefen strukturellen Pessimismus. Doch wie so oft gilt auch hier: In der Krise liegen die Chancen. Für antizyklische Investoren, die sich auf Fundamentaldaten stützen, bietet sich eine seltene Gelegenheit, Qualitätsunternehmen mit Abschlag zu erwerben.
Der Glaube an den inneren Wert ist die Wette gegen die kurzfristige Marktpsychologie – und genau darin liegt das Wesen des Value Investing. Die Frage ist nur: Wer hat den Mut, dort zu investieren, wo sich heute niemand wohlfühlt?