New York – Was einst als kulinarisches Notfallprodukt in dunklen Küchenschränken sein Dasein fristete, avanciert nun zum Symbol eines gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbruchs: Dosenfisch ist in den USA plötzlich so populär wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Und das ausgerechnet in einer Zeit wirtschaftlicher Unsicherheit. Handelt es sich um ein skurriles Lifestyle-Phänomen – oder um ein leises Alarmsignal für eine tieferliegende Konsumkrise?
Luxus in der Konserve
Auf TikTok, Instagram und Pinterest zeigen Influencer detailverliebte „Seacuterie“-Boards, servieren Makrelen in Zitronen-Kapern-Marinade auf Sourdough-Toast oder rühren edle Pastagerichte mit portugiesischen Sardinen an. Verpackungen in mediterranem Blau oder Retro-Design unterstreichen das neue Image: Dosenfisch ist nicht länger Billigware, sondern ein leistbarer Hauch von Exotik, eine „Delikatesse to go“.
Selbst Mode- und Lifestyle-Marken haben das Thema entdeckt. Die US-Kette Anthropologie verkauft Kerzen in Fischdosenoptik mit Meersalzduft, die Designerin Staud bringt Handtaschen im Sardinen-Look auf den Markt. Die Ironie: Was früher als schlicht und arm galt, wird nun als clever und kultiviert gefeiert.
Der soziale Wandel auf dem Teller
Doch was treibt diesen Trend? Für Konsumpsychologen wie Ross Steinman von der Widener University ist es eine Form von „erschwinglichem Eskapismus“. In Zeiten globaler Unsicherheit und schwindender Kaufkraft suchen Konsumenten nach kleinen Luxusmomenten im Alltag. Eine Reise nach Mallorca mag derzeit unerschwinglich sein – aber eine 6-Dollar-Dose spanischer Sardinen bringt immerhin ein Stück Urlaub auf den heimischen Tisch.
Hinzu kommt: Dosenfisch hat eine lange Haltbarkeit, ist nährstoffreich, leicht zu lagern und schnell zuzubereiten – alles Eigenschaften, die in wirtschaftlich angespannten Zeiten an Bedeutung gewinnen. Für viele ein pragmatischer Ersatz für teuren Frischfisch oder aufwendige Mahlzeiten.
Zwischen Trend und Rezessionssignal
Auffällig ist die zeitliche Korrelation mit dem drastischen Rückgang des Konsumentenvertrauens in den USA. Der Index der Universität Michigan verzeichnete im Frühjahr 2025 einen der niedrigsten Werte seit über zehn Jahren. Parallel dazu stiegen Google-Suchanfragen nach bestimmten Dosenfischmarken um mehrere Tausend Prozent.
Wirtschaftshistorisch betrachtet, haben ähnliche Verschiebungen im Konsumverhalten – etwa der verstärkte Absatz von Bohnen oder Instantnudeln – bereits in früheren Krisenphasen stattgefunden. Dennoch warnt die Ernährungsexpertin Amelia Finaret davor, voreilige Schlüsse zu ziehen. Der Trend umfasst nicht nur billige Konserven, sondern auch hochwertige, importierte Produkte. Das spreche eher für eine veränderte Wahrnehmung von Esskultur als für eine reine Verzweiflungstat.
Handelskonflikte und Preisdruck
Nicht zu unterschätzen ist die geopolitische Komponente. Der Großteil des in den USA verkauften Dosenfischs stammt aus Spanien, Portugal oder Ostasien. Im Zuge neuer Zollregelungen unter der Trump-Regierung geraten Importeure zunehmend unter Druck. Preise schwanken, Planbarkeit leidet. Händler wie Dan Waber vom US-Unternehmen Rainbow Tomatoes Garden berichten von großen Unsicherheiten im Einkauf und plötzlichen Preissprüngen. Der Slogan „Wenn der Preis steigt, steigen auch unsere Preise“ wird zum bitteren Alltag.
Vom Nischenmarkt zum Massenphänomen?
Dass der Trend nicht nur eine Eintagsfliege ist, zeigt das Beispiel von Wildfish Cannery aus Alaska. Die kleine Familienfirma, die einst nur saisonal arbeitete, vertreibt mittlerweile ganzjährig hochwertig verpackte Lachs-, Muschel- und Thunfischkonserven an Kunden in den gesamten USA. Gründer Mathew Scaletta sieht darin eine Renaissance der Konserventradition – fernab des Billigimages, das Dosenfisch jahrzehntelang anhaftete.
Fazit: Mehr als nur ein Hype
Dosenfisch als „Sardine Girl Summer“-Trend oder Krisenindikator? Vermutlich beides. In der Verbindung von Nostalgie, Convenience, Ästhetik und wirtschaftlichem Kalkül zeigt sich ein bemerkenswerter Wandel im Konsumverhalten. Was wir essen – und wie wir es präsentieren – ist Ausdruck gesellschaftlicher Stimmungen.
Ob Dosenfisch nun ein Vorbote der nächsten Rezession oder einfach nur ein cleverer Marketing-Coup ist, bleibt offen. Doch eines ist klar: Sardinen, Makrelen und Muscheln aus der Konserve sind gekommen, um zu bleiben – zumindest vorerst.