Droht Deutschland zur Kriegspartei zu werden?

Im Kern der Kleinen Anfrage steht die Behauptung der New York Times, dass die USA von deutschem Boden aus – konkret von der US-Basis in Wiesbaden – über Jahre hinweg nicht nur die militärische Gesamtstrategie der Ukraine mitentwickelt, sondern auch konkrete Zielvorgaben für Angriffe bis tief in russisches Kernland koordiniert hätten. Genannt werden detaillierte Vorgänge wie die Einrichtung der „Task Force Dragon“, die Versenkung des russischen Flaggschiffs Moskwa, HIMARS- und ATACMS-Angriffe, die Operation „Lunar Hail“ sowie die Definition sogenannter „Operationszonen“ auf russischem Staatsgebiet, in denen Angriffe gezielt und unter US-Kontrolle durchgeführt worden seien – teilweise auch unter Einsatz von britischen Raketen und Drohnen.

Die AfD-Fraktion argumentiert, dass diese Aktivitäten – sofern sie von deutschem Territorium aus initiiert oder gesteuert wurden – das Neutralitätsrecht verletzen und eine faktische Kriegsbeteiligung Deutschlands darstellen könnten. Im Raum steht damit die Frage, ob die Bundesrepublik nicht längst – ohne Parlamentsbeschluss – zur Konfliktpartei im Ukrainekrieg geworden ist. Die Fragesteller betonen, dass jede unmittelbare Mitwirkung an Angriffen auf russisches Kernland ein massives Eskalationsrisiko für Deutschland mit sich bringe, insbesondere vor dem Hintergrund der nuklearen Dimension.

Die Bundesregierung hingegen weist diese Deutung zurück. Sie erkennt den russischen Angriffskrieg als eklatanten Bruch des Völkerrechts, betont das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine nach Artikel 51 UN-Charta und verweist auf die gängige Schwelle zur Kriegsbeteiligung nach humanitärem Völkerrecht: Nur wenn deutsche Streitkräfte oder zurechenbare Akteure unmittelbar einer Konfliktpartei militärischen Schaden zufügen, wäre Deutschland als Kriegspartei anzusehen. Eine solche direkte Beteiligung bestünde laut Bundesregierung nicht.

Bemerkenswert ist jedoch, dass die Bundesregierung auf zahlreiche Detailfragen – etwa ob sie über die Einrichtung der Task Force Dragon informiert wurde, ob Ausschüsse unterrichtet wurden, ob sie Einwände gegenüber den USA erhoben hat oder ob deutsche Stellen die US-Aktivitäten auf deutschem Boden überwachen – keine substanziellen Antworten gibt. Wiederholt verweist sie auf Geheimhaltungspflichten, Staatswohl, völkerrechtliche Vereinbarungen mit den USA sowie das NATO-Truppenstatut und das Zusatzabkommen.

Politisch brisant ist hierbei weniger das, was die Bundesregierung zugibt, als das, was sie bewusst nicht sagt. Die offene Weigerung, den Bundestag – und damit mittelbar auch die Öffentlichkeit – in konkrete Kenntnisse über Art und Umfang der US-Aktivitäten auf deutschem Boden zu setzen, nährt den Verdacht, dass Deutschland zwar nicht offiziell, wohl aber faktisch in eine militärische Eskalation verwickelt ist, deren Steuerung der Bundesregierung entgleitet. Der Hinweis, dass keine unabhängige Kommission eingesetzt werden soll, um Sachverhalt und Risiken zu untersuchen, verstärkt diesen Eindruck.

Rechtliche Dimension: Neutralitätsrecht, Grundgesetz und NATO-Truppenstatut

Die juristische Kernfrage lautet: Wann wird ein Staat zur Kriegspartei?
Nach Artikel 5 der Haager Konvention V (1907) darf ein neutraler Staat nicht dulden, dass sein Territorium zur Durchführung militärisch relevanter Handlungen einer Kriegspartei genutzt wird. Dies beträfe insbesondere die Planung, Koordinierung und Steuerung konkreter Angriffe. Die Fragesteller legen nahe, dass die US-geführten Operationen aus Wiesbaden genau diesen Tatbestand erfüllen.

Zudem wird auf Artikel 26 GG verwiesen, der das „Führen eines Angriffskriegs“ unter Strafe stellt, sowie auf Artikel 24 Absatz 2 GG in Verbindung mit der NATO-Beistandsverpflichtung, die im Ernstfall auch eine kollektive Verteidigungspflicht auslösen könnte. Sollte Russland die deutschen Duldungen oder Mitwirkungen als kriegsbeteiligend werten, wäre die Bundesregierung völkerrechtlich wie verfassungsrechtlich in einer heiklen Lage.

Die Bundesregierung reagiert auf diese Fragen mit demonstrativer Zurückhaltung. Sie verweigert systematisch die Beantwortung „hypothetischer Fragestellungen“, selbst wenn diese offenkundig aus der Realität der NYT-Enthüllungen gespeist sind. Eine rechtliche Neubewertung des NATO-Truppenstatuts oder des Stationierungsrechts lehnt sie ab. Ebenso sieht sie keinen Anlass, den Internationalen Gerichtshof oder die UN-Organe um eine völkerrechtliche Klärung zu bitten. Auch zu möglichen Verstößen gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz äußert sie sich nicht konkret.

Das NATO-Truppenstatut und das Zusatzabkommen, so die Bundesregierung, verpflichteten die in Deutschland stationierten ausländischen Streitkräfte zur Achtung deutschen Rechts, ließen aber keinen Einfluss auf die operative Planung oder Durchführung militärischer Einsätze zu. Diese Abkommen würden nach Auffassung der Bundesregierung eine „bewährte Grundlage“ darstellen, Änderungen seien nicht erforderlich.

Juristisch problematisch bleibt dabei: Wenn deutsches Recht auf US-Liegenschaften gilt, aber deutsche Behörden keine Kontrolle über dort laufende Operationen haben (oder nehmen), entsteht ein faktisches Vollzugsdefizit, das das Gewaltmonopol des deutschen Staates zumindest relativiert. Ob dies mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar ist, bleibt offen.

Kritische Würdigung

Die Bundesregierung bewegt sich mit ihrer Argumentation auf einem schmalen Grat zwischen völkerrechtlicher Formalität und politischer Realitätsverweigerung. Einerseits betont sie die Nicht-Kriegsbeteiligung Deutschlands, andererseits verzichtet sie auf jede ernsthafte Initiative zur völkerrechtlichen oder verfassungsrechtlichen Klärung der durch die NYT-Berichte aufgeworfenen Fragen. Sie schützt sich hinter Geheimhaltungspflichten und dem Staatswohl, verweigert aber Transparenz gegenüber Parlament und Öffentlichkeit – ein Spannungsverhältnis, das demokratiepolitisch bedenklich ist.

Die politische Tragweite ist evident: Sollte sich bestätigen, dass Deutschland durch Duldung oder stillschweigende Mitwirkung Teil hochsensibler Angriffsplanungen gegen eine Atommacht geworden ist, würde dies nicht nur das Neutralitätsgebot verletzen, sondern auch das Vertrauen in die außenpolitische Steuerungsfähigkeit der Bundesregierung erschüttern. Der Verzicht auf eine unabhängige Kommission, auf eine öffentliche Debatte oder gar eine völkerrechtliche Klärung legt nahe, dass die Regierung kein Interesse an Aufklärung hat – möglicherweise, weil sie deren Ergebnisse fürchtet.

Fazit

Die Drucksache offenbart einen fundamentalen Dissens über die Frage, wie souverän die Bundesrepublik Deutschland in sicherheitspolitischen Kernfragen tatsächlich ist, wenn alliierte Mächte von deutschem Boden aus militärisch operieren. Während die AfD dies als schleichende Kriegsbeteiligung wertet, sieht die Bundesregierung keinen Handlungsbedarf – weder politisch noch rechtlich. Ob dies Ausdruck staatsmännischer Besonnenheit oder einer gefährlichen Verdrängung ist, wird die Zukunft zeigen. Klar ist: Die New York Times hat eine Debatte eröffnet, die in einem demokratischen Rechtsstaat zwingend geführt werden muss – nicht hinter verschlossenen Türen, sondern im Lichte parlamentarischer Kontrolle und öffentlicher Verantwortung.


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