Friedrich Merz, Bundeskanzler einer „großen“ Koalition aus CDU, CSU und SPD, hat sich in der Talkrunde bei Maybrit Illner den Fragen zu den drängendsten politischen Herausforderungen gestellt. Die Bandbreite der Themen reichte von der Finanz- und Wirtschaftspolitik über Außen- und Sicherheitsthemen bis hin zu Migration, gesellschaftlichem Zusammenhalt und der Frage nach dem Selbstverständnis dieser neuen Bundesregierung. Doch wie substanziell sind seine Aussagen wirklich? Und wie kohärent ist der Kurs, den Merz zu skizzieren versucht? Eine kritische Betrachtung.
I. Der Spagat der Finanzpolitik – Prinzipien versus Pragmatismus
Merz’ Aussagen zur Schuldenbremse zeigen exemplarisch das zentrale Dilemma konservativer Haushaltslogik: Auf der einen Seite stilisiert er sich als Wahrer fiskalischer Solidität, auf der anderen Seite legitimiert er Sondervermögen für Infrastruktur und Verteidigung mit einer fast binären Notstandsrhetorik („digital – 0 oder 1“). Diese Argumentation erscheint widersprüchlich: Wenn politische Realität immer wieder zu Ausnahmen zwingt, untergräbt dies langfristig die Glaubwürdigkeit der Schuldenbremse als politisches Dogma. Der Hinweis auf seine persönliche Glaubwürdigkeit wirkt da mehr wie ein rhetorischer Schutzschild als ein inhaltlicher Beitrag zur Debatte um Haushaltsklarheit und Investitionsnotwendigkeit.
Die geplanten Maßnahmen zur wirtschaftlichen Belebung – steuerliche Abschreibungserleichterungen, Körperschaftssteuersenkung und Bürokratieabbau – bedienen primär klassische Angebotslogiken. Auffällig ist jedoch das Fehlen einer genauen Analyse, warum die deutsche Wirtschaft derzeit schwächelt. Die strukturellen Probleme (Fachkräftemangel, Innovationsdefizite, Abhängigkeit von Exportmärkten) werden kaum thematisiert. Auch die geplante Verdopplung des Grundfreibetrags für arbeitende Rentner wirkt eher symbolisch als strukturell entlastend.
II. Außen- und Sicherheitspolitik: Strategische Klarheit oder verbale Aufrüstung?
Dass Merz das Ziel formuliert, die Bundeswehr zur „stärksten konventionellen Armee Europas“ zu machen, ist zweifellos ambitioniert. Doch bleibt unklar, wie dieses Ziel bei gleichzeitiger Haushaltsdisziplin, personellem Engpass und schleppender Rüstungsbeschaffung erreichbar sein soll. Der Hinweis auf die „Notwendigkeit zur Abschreckung“ lässt eine Rückkehr zur Blockdenken-Logik erkennen, ohne eine wirklich europäische Sicherheitsarchitektur zu definieren, die über nationale Hochrüstung hinausgeht.
Die Positionierung zur NATO und den USA unter einem möglichen Präsidenten Trump bleibt vage. Merz setzt auf Hoffnung, nicht auf Strategie. Seine Argumentation, man müsse „Amerika an unserer Seite halten“, wird nicht mit konkreten diplomatischen Initiativen unterlegt. Die Gefahr, sich in Abhängigkeit zu begeben, ohne ein tragfähiges europäisches Sicherheitskonzept zu etablieren, bleibt bestehen.
Bezüglich des Ukraine-Krieges bewegt sich Merz auf einem schmalen Grat: Einerseits verteidigt er die Lieferung westlicher Waffen, andererseits warnt er vor öffentlichem Streit in der Koalition – eine Einsicht, die er in seiner Oppositionszeit als Fraktionschef selten gezeigt hat. Seine Argumentation zur militärischen Erschöpfung als möglichem Kriegsende wirkt historisch nüchtern, blendet aber diplomatische Spielräume nahezu aus.
III. Migrationspolitik: Rechtlicher Eiertanz mit populistischer Schlagseite
Die Aussagen zur Migrationspolitik sind geprägt von rechtlicher Ambivalenz und politischem Kalkül. Merz vermeidet den Begriff „Notlage“, greift aber tief in die sicherheitspolitische Rhetorik, um Grenzkontrollen zu legitimieren. Dass dies mit dem Schengenraum und der Freizügigkeit in Europa schwer vereinbar ist, bleibt unausgesprochen. Seine Differenzierung zwischen schutzbedürftigen und „anderen“ Flüchtlingen reproduziert ein Narrativ, das Fluchtursachen pauschalisiert und Migration auf Sicherheitsfragen reduziert.
Dass er sich klar gegen ein Zurückschieben nach Polen positioniert, ist juristisch sauber, aber kommunikativ inkonsequent: De facto bleibt es bei Zurückweisungen – mit ähnlicher Wirkung. Die wiederholte Betonung organisierter Schleuserbanden suggeriert eine kriminologische Sicht auf Migration, ohne die humanitären und geopolitischen Ursachen angemessen zu beleuchten.
IV. Gesellschaftlicher Zusammenhalt: Symbolik statt Strukturreformen
Merz fordert eine „Kraftanstrengung“ des Landes und beschwört eine neue gemeinsame Aufbruchsstimmung. Doch seine politischen Instrumente bleiben vielfach vage. Die Reform des Arbeitszeitgesetzes hin zu einer Wochenhöchstarbeitszeit ist ein Schritt in Richtung Flexibilisierung, aber kein gesamtgesellschaftliches Projekt. Auch seine Absage an die Vier-Tage-Woche verweist mehr auf Misstrauen gegenüber neuen Arbeitsmodellen als auf eine echte Vision für die Arbeitswelt von morgen.
Bei den Sozialsystemen bleibt vieles im Ungefähren: Zwar erkennt Merz deren finanzielle Schieflage an, doch konkrete Reformvorschläge – etwa zur Rentenversicherung – bleiben bruchstückhaft. Die erwähnte „Frühstartrente“ oder Kapitaldeckung werden eher angedeutet als erklärt. Der Verweis auf die Verantwortung gegenüber der jungen Generation ist richtig, bleibt aber ohne strukturelle Konsequenz.
V. Klimapolitik: Entideologisierung als Ausrede für Inaktivität?
Der Vorwurf an die Grünen, das Klimathema „übermoralisiert“ zu haben, wirkt wie ein ideologischer Reflex. Merz’ Bekenntnis zu „Technologieoffenheit“ ist zwar populär, bleibt aber substanzlos, solange keine konkreten Strategien zur Dekarbonisierung folgen. Das angekündigte CCS-Gesetz mag ein Schritt sein, doch es ersetzt keine umfassende Transformation der Energie- und Industriesektoren. Auch das Klimageld bleibt nebulös: Ohne klare Ausgestaltung verkommt es zum Placebo in der Debatte um soziale Flankierung von CO₂-Bepreisung.
VI. Koalition und politische Kultur: Einigung durch Erinnerung
Die Selbstdarstellung als lernfähige Regierung ist wohl das politisch klügste Element in Merz’ Auftritt. Die Erinnerung an die streitbare Ampel dient als Kontrastfolie. Doch der Verweis auf Einigkeit und „gute Atmosphäre“ ersetzt kein gemeinsames Leitbild. Gerade in einer Koalition mit historisch divergierenden Grundüberzeugungen (CDU/CSU vs. SPD) muss mehr erkennbar werden als bloß die Vermeidung von Konflikt.
Die Betonung der Diversität im Kabinett wirkt sympathisch, wird aber kaum mit politischem Programm unterfüttert. Diversität darf kein Selbstzweck sein, sondern muss sich in Repräsentation und Reformen spiegeln – gerade in Bildungs-, Migrations- und Gleichstellungspolitik.
Fazit:
Friedrich Merz inszeniert sich als moderner, pragmatischer Staatsmann – doch seine Politik changiert zwischen klassischem Ordoliberalismus, sicherheitspolitischer Härte und der Flucht in technokratische Antworten. Das Interview zeigt einen Kanzler, der bemüht ist, Vertrauen zu erzeugen, dabei aber oft in die Defensive gerät. Viele seiner Antworten sind reaktiv statt strategisch, symbolisch statt strukturell.
Ob seine Regierung tatsächlich die Kraft hat, Deutschland aus einer Phase politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Desorientierung zu führen, bleibt offen. Klar ist: Merz wird nicht an seinen Worten, sondern an seiner Fähigkeit zur kohärenten Umsetzung gemessen werden. Daran hat dieses Interview hohe Erwartungen geweckt – und erste Zweifel gesät.