Mit ihren jüngsten Äußerungen zur Arbeitsmoral der Deutschen hat Bundeswirtschaftsministerin Katharina Reiche eine alte Debatte neu entzündet – mit Wucht, aber ohne den notwendigen Weitblick. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung forderte sie nichts weniger als eine fundamentale Umkehr in der Rentenpolitik: Die Deutschen müssten mehr arbeiten, länger arbeiten, und sie verwies auf die USA, wo im Durchschnitt pro Jahr 450 bis 500 Stunden mehr geleistet würden als hierzulande. Wer aber so argumentiert, vergleicht Zahlen, nicht Lebensrealitäten.
Tatsächlich steht das deutsche Rentensystem unter Druck. Die Alterung der Gesellschaft, der Rückgang der Geburtenrate und eine stagnierende Erwerbsbeteiligung bei bestimmten Gruppen führen in den kommenden Jahren zwangsläufig zu einer Finanzierungslücke. Reiche benennt dieses strukturelle Problem zu Recht. Ihre Diagnose ist nicht falsch, doch ihre Therapie wirkt eher wie ein ideologisches Reizmittel als eine verantwortungsvolle Reformarchitektur.
Denn wer ernsthaft glaubt, man könne die Rentenfrage lösen, indem man pauschal mehr Jahresarbeitsstunden fordert, verkennt die Komplexität der Lage. Die durchschnittlich geringere Arbeitszeit in Deutschland resultiert nicht aus mangelndem Fleiß, sondern aus der Realität einer hochentwickelten Volkswirtschaft mit ausgeprägtem Teilzeit- und Dienstleistungssektor, einer hohen Erwerbstätigenquote unter Frauen und einem vergleichsweise besseren Schutz von Eltern, Pflegenden und Älteren. Eine Arbeitsmarktpolitik, die auf „mehr Stunden“ statt auf „bessere Verteilung“ zielt, läuft Gefahr, vor allem jene zu bestrafen, die ohnehin schon am Limit arbeiten – oft unbezahlt, im sozialen Nahbereich.
Der Aufschrei aus Sozialverbänden, dem sozialpolitischen Flügel der CDU und der SPD ist daher nicht bloß politisches Getöse. Er ist Ausdruck einer berechtigten Sorge: Dass hier nicht eine sachliche Reform, sondern eine stille Aushöhlung des Rentenversprechens eingeleitet werden soll – durch die Hintertür, ohne gesellschaftlichen Konsens. Wenn Reiche fordert, Anreize zur Frühverrentung zu streichen, dann mag das in Einzelfällen sinnvoll sein. Doch das alleine wird die Lücke nicht schließen, ebenso wenig wie eine schlichte Koppelung des Rentenalters an die Lebenserwartung.
Worüber wir stattdessen sprechen müssten, ist eine gerechtere Lastenverteilung. Warum zahlen Beamte, Selbstständige und Bundestagsabgeordnete nicht in die gesetzliche Rentenversicherung ein? Warum scheuen sich bürgerliche Parteien so konsequent vor dem Gedanken einer Erwerbstätigenversicherung, die alle einbezieht – nicht als Strafmaßnahme, sondern als Zeichen von Solidarität und Vertrauen in das System?
Die Ministerin hat mit ihrer Intervention die Debatte angestoßen. Das ist gut. Doch wer nur auf Mehrarbeit setzt, ohne auch die Gerechtigkeitsfrage zu stellen, riskiert nicht nur politischen Widerstand, sondern untergräbt das Vertrauen in die Reformfähigkeit des Sozialstaats. Deutschland braucht nicht mehr Arbeitsstunden, sondern mehr politische Ernsthaftigkeit. Die Herausforderungen sind real. Die Lösungen müssen es auch sein.