Die vorliegende Bundestagsdrucksache 21/1520 ist die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke (Drucksache 21/1183) zu den Einsätzen von Überwachungstechnologien wie sogenannten „stillen SMS“, WLAN-Catchern, IMSI-Catchern, Funkzellenabfragen und weiteren digitalen Ermittlungsmethoden im Jahr 2024 und im ersten Halbjahr 2025. Die Fragen zielen darauf ab, Transparenz über den Umfang, die rechtliche Grundlage und die Auswirkungen dieser Maßnahmen herzustellen, insbesondere im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Anforderung einer „Überwachungsgesamtrechnung“ – also die Gesamtbilanz aller Grundrechtseingriffe durch staatliche Stellen.
Vorbemerkung der Bundesregierung: Geheimhaltung und Abwägung
Die Bundesregierung begründet, dass viele Antworten nicht öffentlich erteilt werden können, da sie geheimhaltungsbedürftige Informationen enthalten, die die Arbeitsweise und Methodik der Nachrichtendienste und anderer Sicherheitsbehörden betreffen. Insbesondere die technischen Fähigkeiten im Bereich der Fernmelde- und IT-Aufklärung seien für die nationale Sicherheit entscheidend.
- VS-Einstufung: Einige Antworten sind als „Geheim“ oder „VS-Nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft. Diese Dokumente wurden nicht im öffentlichen Drucksachenband veröffentlicht, sondern separat an die Geheimschutzstelle oder das Parlamentssekretariat des Bundestages übermittelt.
- Verweigerung einzelner Antworten: Für bestimmte Fragen (insb. 6, 7, 8, 10, 11) wird eine Beantwortung überhaupt verweigert, auch in geheimer Form, da deren Bekanntwerden selbst gegenüber einem begrenzten Kreis erhebliche Risiken für die Aufklärungsfähigkeit der Nachrichtendienste und der Bundeswehr darstellen würde.
- Generalbundesanwalt (GBA): Bei ihm werden einige Daten statistisch nicht erfasst, sodass eine Beantwortung nur mit unverhältnismäßigem Aufwand möglich wäre.
Zusammenfassende Darstellung der beantworteten Fragen
1. Einsatz von WLAN-Catchern
- BKA und Bundespolizei: Haben im genannten Zeitraum keinen Einsatz durchgeführt.
- Amtshilfe für den Zoll: Die Bundespolizei hat im Auftrag des Zolls WLAN-Catcher eingesetzt.
- Benachrichtigung Betroffener: Ob Betroffene nachträglich informiert wurden, ist der Bundesregierung nicht bekannt. Der Zoll führte 2023 keine solchen Maßnahmen durch.
- Technik: Details zur Hard- und Software sind geheim (VS-NfD).
- Erkenntnisgewinn: Der Einsatz dient grundsätzlich der Erforschung schwerer Straftaten und wird daher als wesentlich angesehen.
2. Einsatz von IMSI-Catchern
- BKA:
- 1. Halbjahr 2024: 29 Maßnahmen
- 2. Halbjahr 2024: 40 Maßnahmen
- 1. Halbjahr 2025: 35 Maßnahmen
→ Insgesamt betroffen: 50 Personen in 23 Verfahren (2024), 29 Personen in 21 Verfahren (2025) - Bundespolizei:
- 1. HJ 2024: 24 Einsätze (davon 2x Amtshilfe)
- 2. HJ 2024: 21 Einsätze (davon 4x Amtshilfe)
- 1. HJ 2025: 19 Einsätze
→ Betroffen: 52 Ermittlungsverfahren, Personenstatistik wird nicht geführt - Amtshilfe: Der Zoll setzt eigene IMSI-Catcher ein. Zudem wurden Geräte der Bundespolizei und verschiedener Länder (u. a. Bayern, Berlin, NRW, Schleswig-Holstein) im Rahmen der Amtshilfe genutzt.
- Benachrichtigung: Weder BKA noch Zoll haben Betroffene benachrichtigt. Die Bundespolizei führt hierzu keine Statistik.
- Ausfuhrgenehmigungen: 2024 wurde eine Genehmigung für den Export eines IMSI-Catchers nach Jordanien erteilt. Unternehmen werden aus Geschäftsgeheimnisschutzgründen nicht genannt.
- Erkenntnisgewinn: IMSI-Catcher dienen der Identifizierung von Mobilgeräten und Standortermittlung und sind daher bei schweren Straftaten wesentlich.
3. Einsatz „stiller SMS“ (Standortabfrage per unsichtbarer SMS)
- Bundespolizei:
- 1. HJ 2024: 4.161 stille SMS
- 2. HJ 2024: 15.031 stille SMS
- 1. HJ 2025: 18.639 stille SMS
- BKA:
- 2024: 81 Personen in 38 Ermittlungsverfahren
- 1. HJ 2025: 53 Personen in 31 Verfahren
- Benachrichtigung: BKA und Bundespolizei haben keine Benachrichtigungen durchgeführt. Beim Bundesverfassungsschutz (BfV) erfolgt dies gemäß G10-Gesetz.
- Technik: Details zur verwendeten Software sind geheim (VS-NfD).
- Fähigkeit der Behörden: Keine Änderungen gegenüber 2023; BKA, Bundespolizei und BfV sind technisch und rechtlich dazu befugt.
4. IP-Catching (Abgreifen von Internetnutzung über IP-Adressen)
- Zoll und Bundespolizei: Haben im fraglichen Zeitraum keine Maßnahmen durchgeführt.
- Allgemein: Das Verfahren wird als geeignet zur Strafverfolgung angesehen.
- Weitere Details (Anzahl, Gerichte, Benachrichtigungen): Nur teilweise beantwortet, weitere Angaben sind geheim (VS-NfD).
5. Funkzellenauswertung (Analyse von Handy-Signalen in Mobilfunkzellen)
- Generalbundesanwalt (GBA):
- 2. HJ 2024: 1 Verfahren, 1 Beschuldigter (Terrorismus/Mord)
- 1. HJ 2025: 4 Verfahren, 4 Beschuldigte (u. a. Terrorvereinigung, versuchter Mord), 8 Auswertungen
→ 7 davon nach Beschluss des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof - BKA:
- 8 Ermittlungsverfahren, 12 betroffene Personen
- Benachrichtigung: Seitens GBA und BKA keine Benachrichtigungen erfolgt. Beim Zoll obliegt dies den Staatsanwaltschaften (unbekannt).
- Erkenntnisgewinn: Wichtige Erkenntnisse zu Aufenthaltsorten, Kontakten und Kommunikationsmitteln der Beschuldigten.
6. Abfrage geolokalisierter Standortdaten bei Herstellern
- Bundespolizei, BKA, Zollkriminalamt: Haben im Anfragezeitraum keine Abfragen bei Herstellern (wie Apple, Google) vorgenommen.
7. Fernaktivierung von Mikrofonen in Mobiltelefonen
- BKA, Zoll, GBA: Führen derartige Maßnahmen nicht durch.
- Weitere Aussagen bleiben aus Gründen der Geheimhaltung verschwiegen.
8. Fernzugriff auf digitale Geräte (Online-Durchsuchung, Quellen-TKÜ)
- Generalbundesanwalt (GBA):
- 1. HJ 2024: 5 Verfahren, 10 Anordnungen
- 2. HJ 2024: 9 Verfahren, 16 Anordnungen
- 1. HJ 2025: 8 Verfahren, 15 Anordnungen
→ Betroffene: 6 (HJ1/24), 11 (HJ2/24), 16 (HJ1/25) - BKA und Zoll: Beantwortung völlig verweigert, da dies besonders schutzwürdige Geheimhaltungsinteressen betrifft. Selbst eine VS-Einstufung reiche nicht aus, um die Risiken auszuschließen.
- Erkenntnisgewinn: Die Maßnahmen liefern oft nicht anders zugängliche Erkenntnisse und sind daher entscheidend für die Aufklärung schwerer Straftaten.
- Benachrichtigung: Beim GBA keine Benachrichtigungen. Beim BfV erfolgt Unterrichtung gemäß G10-Gesetz.
9. Mitlesen in Messenger-Accounts (Signal, WhatsApp etc.) mittels zweiten Geräts
- BKA:
- 1. HJ 2024: 13 Maßnahmen in 12 Verfahren
- 2. HJ 2024: 18 Maßnahmen in 12 Verfahren
- 1. HJ 2025: 21 Maßnahmen in 9 Verfahren
→ Durch „Einloggen auf einem zweiten Gerät“, wenn z. B. ein Smartphone beschlagnahmt wurde - Weitere Details sind geheim.
10. Nutzung fremder Online-Accounts in anderen Ermittlungsverfahren
- BKA:
- 1. und 2. HJ 2024: jeweils 1 Account übernommen
- 1. HJ 2025: 2 Accounts übernommen
→ Alle wurden in anderen Ermittlungsverfahren genutzt, nach Abschluss nicht weiter verwendet - Bundespolizei: Hat diese Methode nicht eingesetzt.
11. Beschaffung von Software/Hardware zur Überwachung öffentlicher und geschlossener Internetquellen
- BKA: Keine neuen Erkenntnisse gegenüber früherer Antwort (Drucksache 20/10835).
- GBA und Zoll: Keine entsprechenden Beschaffungen.
- Weitere Angaben werden aus Geheimhaltungsgründen verweigert.
Zentrale Kritikpunkte und Zusammenfassung
- Transparenzdefizit: Die Bundesregierung weist einen Großteil der Fragen zurück oder gibt nur partielle, stark zensierte Antworten. Dies erschwert eine parlamentarische Kontrolle und die notwendige öffentliche Debatte über die Verhältnismäßigkeit von Überwachungsmaßnahmen.
- Geheimhaltung vs. Parlamentsrechte: Die Bundesregierung beruft sich auf das Staatswohl und die Gefährdung von Aufklärungsfähigkeiten, um ihre Geheimhaltungspflicht über das parlamentarische Informationsrecht zu stellen. Dies geschieht zwar unter Berufung auf Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, bleibt aber kontrovers.
- Praxis der Überwachung: Trotz Geheimhaltung wird deutlich, dass Technologien wie IMSI-Catcher, stille SMS und Quellen-TKÜ regelmäßig eingesetzt werden, insbesondere gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus.
- Benachrichtigung Betroffener: In vielen Fällen erfolgt keine nachträgliche Information der Betroffenen – weder durch BKA noch GBA. Nur beim BfV ist dies gesetzlich vorgeschrieben.
- Amtshilfe und Kooperation: Bundesbehörden greifen häufig auf Ressourcen der Länder zurück, was die dezentrale Entwicklung von Überwachungskapazitäten verdeutlicht.
Fazit
Die Antwort zeigt eine umfangreiche Nutzung moderner digitaler Überwachungstechnologien durch Bundesbehörden, insbesondere BKA, Bundespolizei und Generalbundesanwalt. Gleichzeitig wird durch die extensive Geheimhaltung die Möglichkeit der demokratischen Kontrolle massiv eingeschränkt. Während die Regierung argumentiert, dass Offenlegung die Sicherheit gefährde, bleibt kritisch zu hinterfragen, ob die Balance zwischen Sicherheit und informationeller Selbstbestimmung gewahrt bleibt – gerade im Lichte geplanter Gesetzesänderungen im Polizei- und Verfassungsschutzrecht.