ETFs vs. Einzelaktien – Eine Analyse zweier Anlagestrategien unter finanzwissenschaftlicher, verhaltensökonomischer und steuerlicher Perspektive

Die Frage nach der optimalen Anlagestrategie – ETFs oder Einzelaktien – ist nicht bloß eine Geschmacksfrage, sondern berührt fundamentale Aspekte von Risiko, Ertrag, Steuergestaltung, Behavioral Finance sowie Markteffizienz. Im Folgenden wird dieser Zielkonflikt nicht nur unter praktischen, sondern auch unter wissenschaftlich-theoretischen Gesichtspunkten präzise analysiert. Dabei steht weniger eine binäre Entscheidung im Vordergrund, sondern vielmehr die Frage, welche Strategie unter welchen Bedingungen rational begründbar ist.

1. Grundsätzliche Charakteristika: Indexinvestment versus idiosynkratisches Risiko

ETFs stellen einen passiven, systematischen Zugang zu den Kapitalmärkten dar. Die Konstruktion eines ETFs zielt auf die möglichst exakte Replikation eines Marktindex (z. B. MSCI World, S&P 500) oder einer Faktorstrategie (z. B. Value, Momentum, Quality). Der Vorteil liegt in der inhärenten Diversifikation: Das unsystematische Risiko einzelner Titel wird durch Streuung weitgehend eliminiert. Diese breite Risikostreuung beruht auf der Portfoliotheorie von Markowitz (1952), die nachweist, dass ein diversifiziertes Portfolio bei gleichem Risiko eine höhere erwartete Rendite erzielen kann als ein konzentriertes.

Einzelaktien hingegen unterliegen einem signifikanten idiosynkratischen Risiko, das nicht durch einfache Portfoliooptimierung eliminiert werden kann. Während einzelne Aktien in Ausnahmefällen eine erhebliche Outperformance erzielen (sog. „Tenbagger“), ist dies ex ante kaum prognostizierbar. Das „Picking“ solcher Titel gleicht in der Praxis eher einer Lotterie als einer robusten Anlagestrategie. Selbst professionelle Fondsmanager scheitern laut SPIVA-Statistik in der überwiegenden Mehrzahl daran, den Markt nach Kosten dauerhaft zu übertreffen. Für Privatanleger mit beschränktem Zugang zu Informationen, Analysen und Risikomanagement ist die Erfolgswahrscheinlichkeit nochmals geringer.

2. Verhaltensökonomische Aspekte: Warum Anleger scheitern

Die Behavioral Finance hat überzeugend gezeigt, dass individuelle Anleger kognitiven Verzerrungen unterliegen, die insbesondere bei Einzelaktieninvestments manifest werden:

  • Overconfidence Bias: Anleger überschätzen ihre Fähigkeit, Gewinneraktien zu identifizieren und „den Markt zu schlagen“.
  • Loss Aversion (Kahneman/Tversky): Verluste werden emotional deutlich schwerer gewichtet als Gewinne, was zu irrationalen Verkaufsentscheidungen führt.
  • Disposition Effect: Anleger neigen dazu, Gewinner zu früh zu verkaufen und Verlierer zu lange zu halten.
  • Home Bias: Es wird bevorzugt in heimische Unternehmen investiert, was die geografische Diversifikation reduziert.

ETFs reduzieren diese Fehlerquellen durch ihre systematische und automatisierte Struktur erheblich. Wer etwa in einen globalen ETF investiert, ist automatisch in über 1.500 Unternehmen aus über 50 Ländern investiert – ein Level an Diversifikation, das ein Privatinvestor mit Einzelaktien weder ökonomisch noch operativ erreichen kann.

3. Steuerrechtliche und regulatorische Aspekte – ein unterschätzter Differenzierungsfaktor

Seit der Investmentsteuerreform 2018 genießen ETFs in Deutschland erhebliche Vereinfachungen und steuerliche Vorteile:

  • Teilfreistellung: Aktien-ETFs mit mind. 51 % Aktienquote sind zu 30 % von der Abgeltungssteuer befreit – ein signifikanter Steuervorteil gegenüber direkt gehaltenen Einzelaktien.
  • Vorabpauschale: Die Steuer auf thesaurierende Fonds wird antizipiert, verhindert aber steuerliche Überraschungen bei späterem Verkauf.
  • Quellensteuerproblematik: Bei ETFs wird die ausländische Quellensteuer meist pauschal abgegolten, während bei Einzelaktien komplizierte Rückerstattungsverfahren erforderlich sein können.
  • Rebalancing ohne Steuerbelastung: Innerhalb eines ETF-Portfolios kann regelmäßig umgeschichtet werden, ohne dass beim Anleger steuerpflichtige Veräußerungsgewinne anfallen.

Diese steuerlichen Vorteile kumulieren sich über Jahrzehnte zu einem signifikanten Renditevorsprung, den viele Privatanleger strukturell unterschätzen.

4. Empirische Evidenz: Der Mythos der Überrendite durch Stock Picking

Die historische Renditeverteilung von Aktien folgt nicht einer Normalverteilung, sondern einer Power-Law-Verteilung: Eine kleine Zahl von Titeln erzeugt einen Großteil der langfristigen Rendite. Eine Studie von Bessembinder (2017) zeigt: Von über 26.000 US-Aktien zwischen 1926 und 2016 erzeugten lediglich 4 % den gesamten Nettowertzuwachs über der risikofreien Anlage. Ähnliche Befunde finden sich in einer neueren Meta-Analyse von Antipetaisto (2023) auf Reddit-Basis: Die Wahrscheinlichkeit, mit einer Einzelaktie über 10 Jahre eine Outperformance zu erzielen, liegt bei unter 20 %. In über 50 % der Fälle liegt die Performance sogar 8 % unter dem Marktmittel.

Diese Erkenntnisse konterkarieren den verbreiteten Glauben, es sei möglich, durch gezieltes Stock Picking eine dauerhafte Outperformance zu erzielen. Für Anleger ohne institutionelle Ressourcen ist ein ETF-Ansatz nicht nur einfacher, sondern im Durchschnitt auch erfolgreicher.

5. Faktorinvestments als Mittelweg

Passives Investieren ist heute keineswegs gleichbedeutend mit reinem Marktkapitalisierungs-Ansatz. Durch sogenannte Smart-Beta-ETFs können Anleger gezielt Faktorprämien vereinnahmen – etwa durch Investition in unterbewertete Unternehmen (Value), in kleine Unternehmen (Size) oder in Titel mit stabilen Dividenden (Quality/Dividend). Diese Strategien beruhen auf empirisch belastbaren Anomalien und können regelbasiert umgesetzt werden, ohne in die Fallstricke individuellen Stock Pickings zu geraten. Im Gegensatz zu aktiven Fonds bleiben die Kosten niedrig, die Transparenz hoch, und die Umsetzung steuerlich vorteilhaft.

6. Strategisches Zusammenspiel: Core-Satellite als rationale Synthese

Die Core-Satellite-Strategie stellt eine praxistaugliche Synthese dar. Der Portfolio-Kern („Core“) wird mit breit gestreuten ETFs besetzt, typischerweise Welt-ETFs, die als Fundament einer langfristigen, kosteneffizienten Vermögensbildung fungieren. Die „Satelliten“ hingegen bestehen aus Einzelaktien oder Themeninvestments, bei denen gezielt – und bewusst mit begrenztem Risiko – auf Überrendite spekuliert wird. Entscheidend dabei ist die klare Gewichtung: Einzelaktien sollten 10–20 % des Gesamtportfolios nicht übersteigen. Eine solche Struktur ermöglicht aktives Engagement, ohne die strukturellen Vorteile passiver Investments aufzugeben.

7. Schlussbetrachtung: Marktteilnahme als Systemfrage

Die Entscheidung zwischen ETFs und Einzelaktien ist letztlich eine Frage des Anlageethos: Wer auf Selbstüberschätzung, kurzfristige Gewinne und Intuition baut, begibt sich auf einen unsicheren Pfad. Wer hingegen Struktur, Demut vor der Markteffizienz und langfristige Kapitalbildung als Leitprinzipien wählt, wird kaum an ETFs vorbeikommen. Die Marktwirtschaft belohnt nicht die Lautesten oder Mutigsten – sondern die Disziplinierten. Und genau darin liegt die eigentliche Tugend des ETF-Investierens.

Fazit für Experten:

  • Für Vermögensverwalter und institutionelle Investoren: ETFs bieten nicht nur Liquidität, sondern auch eine verlässliche Replikation systematischer Renditequellen bei planbaren Risiken.
  • Für Finanzberater: Der strategische Einsatz von ETFs als Kerninvestment kann mit gezieltem Einzelaktien-Exposure kombiniert werden – allerdings unter klarer Zieldefinition und Risikoüberwachung.
  • Für anspruchsvolle Privatinvestoren: Wer Einzelaktien aus Überzeugung wählt, sollte sich der geringen Wahrscheinlichkeit systematischer Outperformance bewusst sein – und dies in sein Risikomanagement und seine Erwartungen integrieren.

Insgesamt gilt: ETFs sind kein Allheilmittel, aber sie verkörpern den rationalen Gegenentwurf zur spekulativen Selbstüberschätzung, die viele Anleger teuer bezahlt haben. Wer langfristig denkt, mathematisch argumentiert und psychologisch gefestigt investiert, findet in ETFs die wahrscheinlich überlegene Strategie.


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Disclaimer: Dieser Beitrag dient lediglich zu allgemeinen Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Bitte konsultieren Sie vor jeder Anlageentscheidung einen unabhängigen Finanzberater