Die Europäische Kommission hat heute ihre mit Spannung erwartete Frühlingsprognose vorgelegt. Wirtschaftskommissar Valdis Dombrovskis präsentierte in Brüssel eine umfassende Einschätzung der ökonomischen Lage der EU – eingebettet in ein geopolitisches Umfeld, das von wachsender Unsicherheit, protektionistischen Tendenzen und strukturellen Herausforderungen geprägt ist. Der Ausblick fällt gemischt aus: Trotz resilienter Arbeitsmärkte, sinkender Inflation und moderat wachsender Löhne trüben globale Risiken, schwache Investitionen und steigende Defizite die Konjunkturaussichten. Die Botschaft aus Brüssel: Stabilität braucht kluge Strukturreformen – und politische Entschlossenheit.
Globale Unsicherheit: Der Preis amerikanischer Protektion
Im Zentrum der aktuellen wirtschaftlichen Verunsicherung steht die aggressive Handelspolitik der neuen US-Regierung. Mit einem Zollniveau auf historischem Höchststand – vergleichbar mit den 1930er Jahren – werden gezielt wirtschaftliche Spannungen geschürt. Dombrovskis bezeichnete das Vorgehen als „irrational“ und warnte vor einer globalen Wachstumsbremse. Die Kommission rechnet damit, dass der Welthandel bis 2026 um 2,9 % schrumpft, das globale BIP um 0,4 % zurückgeht. Besonders bemerkenswert: Die USA selbst würden stärker unter den Folgen leiden (–1 % kumulatives Wachstum), die EU käme mit einem vergleichsweise geringen Verlust (–0,2 %) davon. Doch die strukturellen Effekte – Vertrauensverlust, Marktvolatilität, Investitionszurückhaltung – könnten langfristig schwerer wiegen als die direkten ökonomischen Einbußen.
Gedämpftes Wachstum trotz robuster Binnenkonjunktur
Das Wachstum der EU wird nach unten korrigiert: Für 2025 erwartet Brüssel ein Plus von nur noch 1,1 %, 2026 sollen es 1,5 % sein. Im Vergleich zur Herbstprognose bedeutet das eine spürbare Abkühlung der Erwartungen. Die externe Nachfrage bricht weg, Exportaussichten trüben sich ein – während die Nettoausfuhren das Wachstum 2025 sogar negativ beeinflussen (–0,5 %). Das wirtschaftliche Rückgrat bleibt der private Konsum, gestützt von einem stabilen Arbeitsmarkt und steigenden Reallöhnen. Die Kernbotschaft: Die EU-Wirtschaft ist nicht in der Krise, aber in der Defensive.
Arbeitsmarkt: Historisch niedrige Arbeitslosigkeit bei moderatem Jobaufbau
Trotz konjunktureller Schwäche bleibt der europäische Arbeitsmarkt ein Lichtblick. Mit 1,7 Millionen neuen Jobs 2024 und weiteren zwei Millionen bis 2026 zeigt sich der Beschäftigungsaufbau bemerkenswert robust. Die Arbeitslosenquote wird auf 5,7 % fallen – ein Rekordtief. Löhne steigen weiter: Nach einem kräftigen Plus von 5,3 % im Vorjahr werden für 2025 und 2026 jeweils 3,9 % und 3 % prognostiziert. Entscheidend ist, dass in fast allen Mitgliedstaaten die realen Einkommen wieder auf Vorkrisenniveau steigen – ein wichtiger Impuls für den privaten Konsum.
Inflation unter Kontrolle – vorerst
Die Inflationsraten fallen schneller als erwartet: 2025 sollen sie im Euroraum auf 2,1 % und 2026 auf 1,7 % sinken. Hauptgrund ist der Preisverfall bei Energie, begleitet von einer Euro-Aufwertung und verstärktem Preiswettbewerb bei Importgütern. Die Rückkehr zu moderaten Teuerungsraten wird jedoch nicht in allen Mitgliedstaaten gleich schnell verlaufen: In Mittel- und Osteuropa bleiben die Lohnstückkosten ein Inflationsrisiko. Insgesamt deutet die Prognose aber auf ein Ende der geldpolitischen Hochspannung hin – mit entsprechenden Auswirkungen auf Konsum und Investitionen.
Investitionen schwächeln: Europas Innovationskraft in Gefahr
Ein zentrales Warnsignal der Prognose betrifft die Investitionstätigkeit. Trotz leichter Erholung (plus 1,5 % in 2025, 2,4 % in 2026) bleibt der Aufschwung flach. Die Unsicherheit lähmt unternehmerische Entscheidungen, insbesondere im Industriesektor. Investitionen in Ausrüstungen stagnieren, die Nutzung bestehender Kapazitäten bleibt niedrig. Dombrovskis verweist auf die strategische Bedeutung der Investitionsförderung – sowohl über nationale Programme als auch durch die Europäische Spar- und Investitionsunion. Besonders brisant: Während Europas Haushalte rund 10 Billionen Euro an Einlagen halten, bleibt der Kapitalfluss in produktive Investitionen schleppend. Ohne gezielte Maßnahmen – etwa durch den Europäischen Wettbewerbs-Kompass oder eine Reindustrialisierungsstrategie – droht ein strukturelles Innovationsdefizit.
Staatsfinanzen unter Druck – neue Spielräume durch Verteidigungsausgaben
Die Haushaltslage der Mitgliedstaaten zeigt sich angespannt. Das Defizit verharrt bei 3,3 % des BIP, die Schuldenquote steigt leicht auf 84,5 % bis 2026. Die fiskalischen Spielräume schrumpfen, während gleichzeitig massive Investitionen – etwa in Verteidigung und Infrastruktur – notwendig werden. Brüssel zeigt sich flexibel: Die Aktivierung der nationalen Ausweichklausel erlaubt es 14 Mitgliedstaaten, ihre Verteidigungsausgaben deutlich zu erhöhen, ohne automatisch ins übermäßige Defizitverfahren zu rutschen. Eine gezielte Aufstockung der Verteidigungsausgaben auf 1,5 % des BIP bis 2028 könnte das EU-BIP um rund 0,5 % steigern – vorausgesetzt, das Geld fließt in europäische Wertschöpfungsketten.
Risikoanalyse: Abwärtsgerichtete Gefahren dominieren
Die Kommission nennt ausdrücklich eine Reihe von Abwärtsrisiken: Neben den US-Zöllen könnten geopolitische Spannungen, etwa mit China, das Wachstum erneut belasten. Positiv hingegen wäre eine Deeskalation im Welthandel, eine stärkere Nutzung bestehender Freihandelsabkommen sowie die gezielte Stärkung der europäischen Verteidigung. Strukturelle Reformen, insbesondere eine Vertiefung des Binnenmarktes und eine konsequente Vereinfachungsagenda, könnten die europäische Wettbewerbsfähigkeit entscheidend stärken – sofern sie politisch umgesetzt werden.
Fazit: Europa bleibt stabil, doch die Spielräume schwinden
Die Frühlingsprognose der EU-Kommission zeigt eine widerstandsfähige, aber verletzliche europäische Wirtschaft. Die politische Botschaft aus Brüssel ist klar: In einer Welt wachsender Unsicherheit kann sich Europa keine ökonomische Selbstzufriedenheit leisten. Der Binnenmarkt muss gestärkt, Investitionen strategisch ausgerichtet, die Innovationskraft entfesselt werden. Gleichzeitig bedarf es eines neuen Verständnisses für die Rolle der Fiskalpolitik: Stabilität bedeutet nicht Sparzwang, sondern kluge Prioritätensetzung. Dombrovskis‘ Rede ist daher nicht nur eine wirtschaftliche Bestandsaufnahme – sie ist ein Plädoyer für eine proaktive europäische Wirtschaftspolitik in schwierigen Zeiten.