EZB auf Zinspause: Stabilität oder vertagte Strukturreformen?

Der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) hat am 11. September 2025 zum zweiten Mal in Folge beschlossen, die Leitzinsen unverändert zu belassen. Der Einlagensatz verbleibt bei 2,00 %, der Zinssatz für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte bei 2,15 % und der Spitzenrefinanzierungssatz bei 2,40 %. Nach sieben Zinssenkungen seit Frühjahr 2024 signalisiert die Zentralbank damit eine Phase des Innehaltens. Begründet wird diese Haltung mit der Inflationsentwicklung, die sich nahe am Zielwert von 2 % stabilisiert hat, sowie einer nach oben revidierten Wachstumsprognose für die Eurozone.

Die EZB gibt sich betont „datenabhängig“. Christine Lagarde stellte klar, dass künftige Entscheidungen von Sitzung zu Sitzung neu bewertet werden. In der Sprache der Zentralbanker heißt das: Es gibt weder ein klares Bekenntnis zu restriktiver Strenge noch zur expansiven Lockerung. Doch gerade diese Offenheit birgt Risiken. Märkte, Unternehmen und Haushalte sehnen sich nach Verlässlichkeit – und genau die verweigert die EZB.

Zwar liegt die Inflation mit 2,1 % im August fast punktgenau am Ziel, doch die Kerninflation – ohne Energie und Nahrungsmittel – verharrt bei 2,3 %. Damit bleibt die strukturelle Teuerung leicht erhöht. Die Prognosen bis 2027 zeigen ein Bild knapper Stabilität, jedoch ohne eindeutige Entwarnung. Eine gewisse Skepsis ist geboten: Wer sich ausschließlich von den aktuellen Verbraucherpreisindizes leiten lässt, läuft Gefahr, die langfristigen Kostendynamiken – etwa durch Lohnabschlüsse oder geopolitische Energiepreisschocks – zu unterschätzen.

Auf der Wachstumsseite kann die Eurozone derzeit Positives verbuchen. Die Prognose für 2025 wurde auf 1,2 % angehoben, getragen von einer unerwartet robusten Binnenkonjunktur. Das klingt erfreulich, darf aber nicht über die Schattenseiten hinwegtäuschen: steigende US-Zölle, der fortgesetzte Krieg in der Ukraine und ein zunehmend aggressiver globaler Wettbewerb setzen den exportorientierten europäischen Unternehmen massiv zu. Ein stärkerer Euro wirkt zusätzlich belastend für die Wettbewerbsfähigkeit. Wer Wachstum primär geldpolitisch stützen will, greift zu kurz – die eigentliche Stellschraube liegt bei Strukturreformen, Deregulierung und Investitionen in Wettbewerbsfähigkeit.

Für Kreditnehmer bedeutet die Zinspause vorerst Erleichterung. Unternehmen können weiterhin vergleichsweise günstig Kapital aufnehmen, was Investitionen erleichtert. Für Sparer hingegen bleibt die Lage angespannt. Zwar zeigen Tages- und Festgeldzinsen zuletzt wieder einen leichten Aufwärtstrend, doch in realer Betrachtung – also nach Inflation – ist die Ersparnisrendite gering. Damit setzt die EZB implizit auf Konsum und Investition statt auf Vermögensbildung. Für eine marktwirtschaftlich orientierte Ordnungspolitik ist das ein zweischneidiges Signal: Preisstabilität und die Möglichkeit, durch Sparen Kapital aufzubauen, gehören zu den Grundlagen eines funktionierenden Kapitalismus.

Zunehmend kritisch gerät die Situation in Frankreich. Mit einer Schuldenquote von 113 % des BIP und einem Haushaltsdefizit von 5,8 % verfehlt die zweitgrößte Volkswirtschaft des Euroraums die europäischen Regeln eklatant. Die steigenden Renditen französischer Staatsanleihen zeigen, dass die Märkte auf fiskalische Disziplin pochen. Dass die EZB mit dem „Transmission Protection Instrument“ (TPI) ein Instrument zur Stützung einzelner Staaten bereithält, ist ordnungspolitisch heikel. Die Gefahr einer faktischen Transferunion durch die Hintertür bleibt bestehen. Sollte die EZB in größerem Umfang französische Anleihen kaufen, wäre dies nicht mehr Geldpolitik im Dienste der Preisstabilität, sondern eine versteckte Staatsfinanzierung.

Langfristig entscheidend wird daher nicht sein, ob die EZB den Zins im Dezember leicht anhebt oder senkt. Entscheidend ist, ob sie es schafft, ihre geldpolitische Rolle auf das zu begrenzen, was ihr Mandat vorsieht: Preisstabilität. Jede Versuchung, fiskalische Probleme einzelner Länder auszugleichen oder den politischen Druck durch expansive Liquiditätspolitik abzufedern, schwächt das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Notenbank. Gerade in einer Zeit, in der die globalen Kapitalmärkte gnadenlos zwischen soliden und unsoliden Staaten unterscheiden, ist Klarheit das wichtigste Gut.

Die Lehre aus der Zinspause lautet daher: Geldpolitik allein kann Europas Wettbewerbsprobleme nicht lösen. Es braucht Regierungen, die auf solide Haushalte achten, Schulden abbauen und gleichzeitig Wachstumsanreize durch steuerliche Entlastungen und Investitionsfreundlichkeit setzen. Nur dann wird die EZB nicht zum Dauerfeuerwehrmann einer Währungsunion, deren eigentliche Brandherde in der Finanzpolitik ihrer Mitglieder liegen.

Mit ihrer Entscheidung zum Stillhalten wahrt die EZB kurzfristig Stabilität. Doch die eigentliche Bewährungsprobe steht noch aus: ob Europa den Mut zu marktwirtschaftlichen Reformen aufbringt – oder ob man weiter darauf setzt, dass eine Zentralbank politische Versäumnisse kaschiert.


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