Distinktion durch Rufnamen: Deutschlands soziale Schichten im Spiegel der Vornamenswahl
Die Gretchenfrage der deutschen Onomastik lautet nicht, welcher Name vergeben wird, sondern wer ihn vergibt – und warum. Seit den 1990er-Jahren haben mehrere linguistische und sozialwissenschaftliche Projekte gezeigt, dass sich Vornamen in Deutschland wie Sedimente sozialer Ungleichheit ablagern. Drei Beobachtungslinien lassen sich dabei klar trennen.
1. Die Produktionsseite: Eltern als Distinktionsakteure
Die bislang breiteste Datenbasis liefert die Studie Rufname und soziale Herkunft von Ute Utech (Stichprobe: 53 568 Neugeborene, Geburtsjahrgang 2004). Dort werden vier Statusgruppen nach Bildung/Beruf unterschieden. In den Top-10-Listen zeigte sich ein klares Gefälle:
Obere Mittelschicht: Paul, Felix, Moritz, Anna, Charlotte
Mittel- bis Unterschicht: Leon, Tim, Justin, Leonie, Michelle
Eine Nachauswertung desselben Datensatzes durch den Namensforscher Knud Bielefeld ergab, dass Akademiker häufiger ›Retro-Namen‹ aus der Zeit vor 1900 vergeben und zugleich künftige Moden antizipieren – ein klassischer lead-class effect im Sinne Bourdieuscher Distinktion.
Ältere Zeitreihen stützen das Muster: Schon die Münchner Geburtenmeldungen von 1974 zeigen unterschiedliche Namensclusters für Arbeiter, Beamte und Selbständige.
Kurz gesagt: Bildungsnahe Milieus setzen entweder auf kulturhistorische Tiefenbohrungen (Friedrich, Heinrich, Luise) oder auf avantgardistische Exklusivität (Lio, Juna). Bildungsferne Milieus orientieren sich stärker am tagesaktuellen Pop- und Mediendiskurs (Justin, Chantal) oder wählen schlichte Evergreen-Namen.
2. Die Rezeptionsseite: Namen als Projektionsfläche
Dass Vornamen ihrerseits soziale Vorurteile auslösen, zeigte die Oldenburger Kevin-Studie: 168 Grundschullehrkräfte benoteten identische Klassenarbeiten signifikant schlechter, wenn der Autor „Kevin“ statt „Maximilian“ hieß.
Das Phänomen wird seitdem als »Kevinismus« diskutiert. Es überdauert zwar medial längst die erste Empirie, bleibt aber in Schule und Ausbildung messbar: Bewerber*innen mit ethnisch oder popkulturell markierten Namen erhalten nach wie vor niedrigere Kompetenz-Zuordnungen – nicht weil der Name per se stigmatisiert, sondern weil er als Indikator fehlinterpretierten sozialen Hintergrunds dient.
2025 legte die RPTU Kaiserslautern-Landau ein Experiment nach: Sobald Lebensläufe minimale Schwächen enthielten, traf türkisch klingende Frauennamen das Ausschlussrisiko stärker als deutsche – ein Intersektionseffekt zwischen Ethnie und Geschlecht.
3. Die Makroperspektive: Namensmoden, Migration, Meritokratie
Die jährlichen Hitlisten der Gesellschaft für deutsche Sprache zeigen ein paradoxes Doppelgesicht: Ganz oben rangieren seit Jahren Sophia, Emilia, Noah oder Matteo – Namen, die sozial kaum trennscharf sind. Erst außerhalb der Top 50 beginnt die soziale Stratifikation.
Parallel verschieben sich Stigmata. Wo früher »Kevin« als Unterschichtenmarker galt, warnt der Tagesspiegel inzwischen vor dem „neuen Kevin“ namens Mohammed – ein Hinweis darauf, dass Klassenvorurteile sich gern mit ethnischen Stereotypen verknüpfen.
Warum das alles? Drei Mechanismen
- Kulturelles Kapital: Hochgebildete Eltern kuratieren Namen wie Bibliothekstitel – selten, historisch aufgeladen, fern des Massenmarkts.
- Imitations- und Sättigungseffekte: Was oben startet, diffundiert nach unten und wird dort zum Mainstream; die Oberen wechseln weiter.
- Gatekeeper-Bias: Schulen, Personalbüros und Vermieter interpretieren Namen als schnelle Heuristik für Leistungs- oder Anpassungsfähigkeit – ein klassisches Vorurteil, das reale Ungleichheit verstärkt.
Kritische Einordnung
- Vornamen sind keine zuverlässigen Klassenmarker; sie liefern nur Wahrscheinlichkeiten. Eine Lea kann Juniorprofessorin werden, ein Friedrich Schulabbrecher.
- Die Datenlage für die heutige Oberschicht ist dünn, weil Standesämter Berufsangaben kaum mehr erfassen; vieles bleibt Indizienforschung.
- Migrationsgeprägte Namenskulturen folgen oft eigenen Logiken (Religionsbindung, transnationale Kontinuität) und unterlaufen den klassischen Modenamenzyklus.
- Gesetzliche Restriktionen (Standesamtgutachten) wirken als ›Soft Power‹ gegen allzu kreative oder identitätspolitische Namenswahl – das unterscheidet Deutschland von liberaleren Namenskulturen wie den USA.
Fazit
Ja, es gibt in Deutschland eine belastbare Korrelation zwischen Vornamen und sozialer Schicht. Sie entsteht erstens durch das bewusst distinktive Wahlverhalten bildungsnaher Milieus und zweitens durch die unbewusste Zuschreibungsdynamik auf Seiten von Lehrkräften, Arbeitgebern und Öffentlichkeit. Das Zusammenspiel beider Ebenen verfestigt soziale Ungleichheiten, ohne sie zu verursachen. Wer glaubt, sein Kind mit einem ›elitären‹ Namen automatisch aufs Siegertreppchen zu hieven, irrt ebenso wie jene, die meinen, ein »Kevin« sei zwangsläufig bildungsfern. Namen sind keine Schicksale – aber sie sind auch nicht bloß Schall und Rauch.
Germanische Vornamen als ideologisches Statement – von „Friedrich“ bis „Wotan“
Die klassischen Distinktionsmechanismen der gebildeten Mittelschicht – Retro-Namen wie Friedrich oder Luise – überschneiden sich nur am Rand mit dem völkisch-rechtsextremen Milieu. Dort geht es weniger um Bourdieusches Kulturkapital als um ethnische Selbstvergewisserung: Eltern wählen bewusst mythologische oder „altgermanische“ Rufnamen (Wotan, Siegfried, Armin, Gudrun), um ihre Kinder symbolisch in ein „nordisch-germanisches Erbe“ einzuschreiben. Die onomastische Forschung und einschlägige Szenestudien nennen drei typische Motive:
- Mythische Genealogie – Namen aus der Edda oder dem Nibelungenlied fungieren als „Blut- und Boden-Marker“. In Völkischen Siedlergemeinschaften werden Runen an Hoftoren und kindlichen Namen oft kombiniert, um ein organisches Volks-Narrativ zu inszenieren.
- Abgrenzung vom „System“ – Die Szene lehnt – ähnlich wie in der Lebensreform der 1920er-Jahre – die „Verstädterung der Sprache“ ab und stilisiert vermeintlich reine germanische Formen als Widerstand gegen „kulturelle Entfremdung“.
- Interne Codierung – Wer sein Kind Wotan oder Siegfried nennt, signalisiert innerhalb der Szene Zugehörigkeit. Solche Namen dienen als stille Türöffner für Schul- und Freizeitnetzwerke, in denen Gleichgesinnte ihre Kinder sozialisieren. Das zeigt etwa die 2023 verbotene „Artgemeinschaft“, die Familienlisten mit empfohlenen „arteigenen“ Vornamen verbreitete.
Historische Wurzeln und quantitative Reichweite
Schon im Nationalsozialismus galten Horst, Siegfried oder Ingrid als patriotische Wahl, wurden jedoch durch massenhafte Propaganda popularisiert und waren keineswegs nur Szene-Codes. Heute lässt sich die rechtsextreme Spur vor allem an regional verdichteten Geburtenmeldungen im ländlichen Raum Nord- und Ostdeutschlands beobachten; belastbare Zahlen bleiben rar, weil Standesämter keine politischen Motive erfassen. Dennoch weisen Beobachter\:innen der Bayerischen und Niedersächsischen Verfassungsschutzbehörden seit Jahren auf „auffällig häufige germanische Vornamen“ in einschlägigen Kolonien hin.
Rechtlicher Rahmen
Grundsätzlich genießen Eltern in Deutschland große Freiheit; das Standesamt greift nur ein, wenn der Name dem Kindeswohl schadet oder kein Personenname ist. Mythologische Formen wie Wotan dürfen deshalb meist eingetragen werden; Adolf ist ebenfalls formal zulässig, wird aber oft durch VerwG-Urteile untersagt, wenn ein erkennbares Extremismussignal vorliegt.
Abgrenzung zum Bildungskonservatismus
Wichtig ist die Unterscheidung: Nicht jeder „alte“ oder „nordische“ Name ist politisch rechts. Der Schauspieler Wotan Wilke Möhring verdankt sein Prä-Nazizeit-Künstlerpseudonym familiären Gründen, nicht völkischer Ideologie. Und Retro-Trends in Prenzlauer Berg (Friedrich, Theodor, Alma) folgen ästhetischen Zyklen, nicht Blut-und-Boden-Fantasien. Erst das Zusammenspiel von Name, Symbolik (Runen, Irminsul) und sozialem Kontext macht einen Hinweis auf Gesinnung plausibel.
Sozialer Effekt – Stigmata und Gegenstigmata
In Kindergärten und Schulen reagieren Fachkräfte inzwischen sensibel: germanische Kampf- oder Götternamen lösen – ähnlich wie der berüchtigte „Kevin-Effekt“ – schnell negative Erwartungen aus, was paradoxerweise die ideologische Opfererzählung der Eltern bestätigt („Das System diskriminiert uns“). Damit schafft sich die Szene eine selbstverstärkende Identitätsblase.
Fazit
Ja, zwischen Vornamen und sozialer Herkunft gibt es in Deutschland nachweisliche Korrelationen. Im Spektrum der Rechtsextremen gewinnen germanische Mythennamen eine zusätzliche, eindeutig politische Konnotation. Doch man sollte weder jeden Friedrich für einen adligen Bildungsbürger halten noch jede Freya zur Neonazi-Tochter stempeln. Erst die Kombination aus Namenswahl, Familiennetzwerk und begleitender Symbolik verrät, ob wir es mit klassischer bürgerlicher Distinktion oder mit völkischer Selbstverortung zu tun haben.