Am 14. Mai 2025 stellte Friedrich Merz als neuer Bundeskanzler seine Regierungserklärung vor. Die Rede geriet zur Generalmobilmachung für eine Zeitenwende, gesättigt mit Pathos, klaren Ansagen und einem starken Bekenntnis zu Reformen. Doch wie neu ist das politische Projekt Merz tatsächlich? Und wie tragfähig ist der Mix aus wirtschaftlichem Klassizismus, sicherheitspolitischer Aufrüstung und gesellschaftlichem Ordnungssinn?
Einleitung mit Anstand – und Absicht
Merz beginnt mit ungewohnt versöhnlichen Tönen. Die Anerkennung der Scholz-Regierung für ihr Krisenmanagement, vor allem im Ukraine-Krieg, wirkt staatsmännisch. Diese Würdigung ist nicht nur höflich, sondern klug: Sie grenzt ihn von der krawalligen Fundamentalopposition ab, ohne seine eigene Linie zu verwässern. Gleichzeitig setzt er damit ein unterschwelliges Narrativ: Jetzt kommen die Macher, nicht mehr die Verwalter. Die Stunde des Pragmatikers hat geschlagen – zumindest in der Theorie.
„Verantwortung für Deutschland“ – ein alter Schlachtruf neu lackiert
Der Leitsatz „Verantwortung für Deutschland“ zieht sich wie ein roter Faden durch die Rede. Was zunächst wie ein nüchternes Bekenntnis klingt, evoziert bei näherer Betrachtung einen politischen Überbau, der konservative Grundüberzeugungen mit nationalem Gestaltungsanspruch verknüpft. Verantwortung meint hier nicht nur Pflichtbewusstsein, sondern auch einen klaren Führungsanspruch im In- und Ausland – wirtschaftlich, sicherheitspolitisch, kulturell.
Doch das Problem ist: Der Begriff bleibt vage. Was bedeutet Verantwortung in einer multipolaren Welt, in der Soft Power oft mehr bewirkt als militärische Stärke? Was bedeutet sie in einer Gesellschaft, die zunehmend heterogener und konfliktreicher wird? Merz liefert darauf mehr Schlagworte als Substanz.
Wirtschaftspolitik: Marktromantik statt Realitätssinn?
Das wirtschaftspolitische Programm liest sich wie aus der Mottenkiste der frühen 2000er: Steuersenkungen, Bürokratieabbau, Freihandel. Die deutsche Wirtschaft stecke in der Rezession, so Merz – ein Befund, dem kaum jemand widerspricht. Doch ob das neoliberale Maßnahmenpaket, das er präsentiert, tatsächlich geeignet ist, den Strukturwandel in Industrie, Energie und Arbeitswelt zu bewältigen, darf bezweifelt werden.
Die geplante steuerliche Entlastung von Unternehmen bei Investitionen ist sicherlich ein sinnvoller Impuls. Doch was fehlt, ist ein echtes industriepolitisches Konzept für Transformation und Resilienz. Statt die Herausforderungen von Digitalisierung, Dekarbonisierung und Demografie in einen kohärenten Plan zu überführen, setzt Merz auf den Glauben an den Markt – flankiert von der Hoffnung, dass sich Innovation von selbst einstellt, wenn man nur die Verwaltung entschlackt. Das ist bestenfalls einseitig, schlimmstenfalls fahrlässig.
Sicherheitspolitik: Militarisierung als neue Mitte
Besonders auffällig ist der sicherheitspolitische Ton. Merz betont mehrfach, Deutschland solle die stärkste konventionelle Armee Europas stellen. Dies ist eine klare Abkehr vom bisherigen Selbstverständnis der Bundesrepublik als zivile Macht. Die Einführung eines attraktiven Freiwilligendienstes, höhere Verteidigungsausgaben und der Ruf nach militärischer Stärke spiegeln eine neue Selbstpositionierung im geopolitischen Kontext wider.
Doch wie glaubwürdig ist dieser Kurswechsel, wenn gleichzeitig konkrete Strategien für Rüstungskontrolle, Diplomatie und Deeskalation kaum thematisiert werden? Stärke mag abschrecken – aber wer keine glaubhafte Friedensstrategie formuliert, riskiert eine gefährliche Dynamik der Eskalation.
Gesellschaftspolitik: Ordnungspolitik unter neuem Vorzeichen
Im Innern plädiert Merz für „Integration durch Leistung“, eine Reform des Bürgergelds, mehr Rückführungen, ein restriktiveres Asylsystem. Gleichzeitig verspricht er Bleiberecht für gut Integrierte – ein Ansatz, der kontrollierte Migration ermöglichen soll, ohne rechte Narrative zu bedienen. Doch in der Umsetzung droht ein schmaler Grat: Die Balance zwischen Ordnung und Humanität, zwischen Steuerung und Integration ist schwer zu halten, wenn das Primat der Begrenzung dominiert.
Auch die Reformvorschläge im Arbeitsmarkt – Flexibilisierung der Höchstarbeitszeit, „Aktivrente“ – scheinen auf ein Arbeitsbild des vergangenen Jahrhunderts zu rekurrieren. Dass die neue Arbeitswelt ganz andere Fragen aufwirft – von der Work-Life-Balance über den Schutz prekärer Beschäftigung bis zur Rolle von KI – bleibt außen vor.
Der neue Ton: weniger Ideologie, mehr Führung?
Die Rede von Merz ist geprägt von dem Versprechen, ideologiefrei und pragmatisch zu regieren. Der Staat solle keine großen gesellschaftlichen Experimente mehr wagen, sondern den Rahmen setzen – stabil, verlässlich, effizient. Das klingt nach Modernisierung durch Management.
Aber auch hier stellt sich die Frage: Wie realistisch ist dieser Anspruch? Denn Politik ist nie nur Verwaltung, sondern auch Auseinandersetzung mit Werten, Identitäten und Konflikten. Wer sich der Ideologie verweigert, läuft Gefahr, den gesellschaftlichen Diskurs zu entpolitisieren – und damit jenen Raum zu überlassen, die mit autoritären Lösungen werben.
Fazit: Ein konservativer Neustart mit vielen Fragezeichen
Friedrich Merz’ Regierungserklärung markiert zweifellos einen politischen Bruch. Sie versucht, der Bundesrepublik einen neuen Kurs zu geben: sicherheitspolitisch resolut, wirtschaftlich liberal, gesellschaftlich regulierend. Doch sie bleibt zu oft in alten Denkmustern gefangen – wirtschaftlich im Glauben an die Selbstheilung des Marktes, sicherheitspolitisch im Vertrauen auf militärische Stärke, gesellschaftlich in der Rhetorik der Ordnung.
Was fehlt, ist eine echte Vision, wie eine offene, vielfältige, nachhaltige Gesellschaft im 21. Jahrhundert aussehen kann – und wie man Menschen dafür gewinnt. Ohne diese Antwort bleibt die Regierung Merz ein Projekt der Mitte mit konservativer Schlagseite – ambitioniert, aber gefährlich einseitig.