Die Grundidee des Frugalismus, durch konsequentes Sparen und minimalistischen Konsum in relativ jungen Jahren ein hinreichend großes Vermögen anzusammeln – etwa 200.000 bis 300.000 Euro bis zum 30. oder 40. Lebensjahr –, um davon den Rest des Lebens zu bestreiten, ist theoretisch verlockend. Doch sie ist nur unter sehr spezifischen Bedingungen realistisch – und in der Praxis mit gravierenden strukturellen Risiken behaftet, insbesondere durch die Inflationswirkung, steigende Lebenshaltungskosten und Unsicherheiten in der Lebenserwartung.
1. Die Grundannahme: Sparen statt Investieren
Viele Frugalisten – insbesondere jene, die stark auf Eigenkontrolle setzen und aus Unsicherheit gegenüber Kapitalmärkten handeln – verlassen sich primär auf Sparen, nicht auf langfristiges Investieren. Diese Strategie ist in einem inflationären Umfeld jedoch hochproblematisch:
- Realwertverlust: Bei einer Inflationsrate von z. B. 3 % verliert ein Vermögen von 300.000 Euro innerhalb von 25 Jahren rund 50 % seiner Kaufkraft, sofern es nicht investiert wird.
- Negative Realzinsen: Klassische Sparprodukte (Tagesgeld, Sparbuch, Festgeld) erwirtschaften meist unter der Inflationsrate – sie konservieren Kapital nominal, nicht real.
- Steigende Lebenshaltungskosten: Mieten, Energiepreise, Lebensmittel – gerade Grundausgaben steigen seit Jahren überproportional.
Fazit: Wer rein auf das Sparen setzt, muss entweder deutlich mehr zurücklegen – oder früher als geplant wieder arbeiten gehen.
2. Frugalismus und Investieren: Theorie vs. Realität
Frugalisten, die sich der Kapitalmärkte bedienen – etwa über ETF-Sparpläne – haben mathematisch bessere Chancen. Ein investiertes Vermögen mit einer angenommenen realen Rendite von 4 % p. a. kann auch bei moderatem Kapitalbedarf lange halten. Doch das Modell basiert auf idealisierten Bedingungen:
- Durchschnittliche Börsenrenditen gelten langfristig, nicht in jedem Jahrzehnt.
- Entnahmestrategien wie die „4 %-Regel“ (jährlich 4 % des Kapitals entnehmen) sind unsicher, da sie stark von Börsenzyklen, Inflation und individuellem Lebensstil abhängen.
- Schocks wie Börsencrashs, Kriege, Pandemien oder persönliche Krisen (Krankheit, Pflegebedarf) sind kaum einplanbar, aber hochrelevant.
Fazit: Selbst mit cleverem Investieren bleibt Frugalismus eine Wette auf Stabilität – in einem zunehmend unsteten globalen Umfeld.
3. Langlebigkeit und Kalkulationsrisiko
Ein oft unterschätzter Faktor ist die Lebenserwartung. Wer mit 40 „in Rente geht“, muss – konservativ gerechnet – für 40–50 Jahre Lebenszeit Kapital vorhalten. Schon kleine Fehlkalkulationen wirken sich dabei massiv aus:
- Ein Kapital von 300.000 Euro entspricht bei 50 Jahren Entnahmezeit gerade einmal 500 Euro pro Monat – ohne Inflation oder Rendite berücksichtigt.
- Mit Inflation (z. B. 2,5 %) sinkt die Kaufkraft jährlich – und müsste durch überdurchschnittliche Kapitalrendite kompensiert werden.
- Unvorhergesehene Ereignisse (Pflege, Scheidung, Kinder, Krisen) sind in einem solchen System nicht vorgesehen, was es extrem fragil macht.
Fazit: Frugalismus ist ein Konzept für Menschen, die ihr Leben mit beinahe mathematischer Präzision planen können – ein Anspruch, den die Realität selten einlöst.
4. Alternative Perspektive: Finanzielle Freiheit durch Struktur, nicht Verzicht
Ein robusterer Weg liegt – wie bereits im vorangegangenen Beitrag dargestellt – nicht im maximalen Kapitalverzicht, sondern in der klugen Kapitalorganisation:
- Automatisiertes Investieren statt manuelles Sparen
- Priorisierte Lebensgestaltung statt pauschalem Verzicht
- Langfristige Altersvorsorge kombiniert mit eigenem Spielraum
Ein solches System erlaubt Freiheit ohne den Zwang zur Asketik und trägt besser den Risiken Rechnung, die in einem langen Lebensverlauf unvermeidlich sind.
Fazit: Frugalismus ist selten realistisch – und meist riskant
Die Vorstellung, durch reines Sparen mit 30 oder 40 in den Ruhestand zu treten und von einem mittleren fünf- bis sechsstelligen Betrag dauerhaft zu leben, überschätzt das menschliche Kalkül und unterschätzt die Komplexität wirtschaftlicher Wirklichkeit. Inflationsrisiken, Lebensdauer, Unvorhersehbarkeiten und emotionale Bedürfnisse machen das Modell anfällig. Wer finanzielle Selbstbestimmung anstrebt, sollte sich nicht vom Ideal des frühen Rückzugs leiten lassen, sondern vom Prinzip der kontinuierlichen, strukturierten Vermögensbildung – mit Investitionen, Sicherheitsreserven und einer realistischen Einschätzung des eigenen Lebensentwurfs.
Sparen schützt. Investieren vermehrt. Doch nur Planung sichert.