Die Kernfusion, der Prozess, der die Sonne mit Energie versorgt, gilt als heiliger Gral der sauberen Energie. Sie verspricht eine nahezu unbegrenzte und praktisch emissionsfreie Energiequelle, die unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen beenden und den Klimawandel maßgeblich bekämpfen könnte. Doch die Nachbildung dieser stellaren Energiequelle auf der Erde stellt die Wissenschaft vor immense Herausforderungen. Im Zentrum dieser Bestrebungen steht das internationale Forschungsprojekt ITER (International Thermonuclear Experimental Reactor) in Südfrankreich – ein gigantisches Unterfangen und das teuerste wissenschaftliche Experiment der Menschheitsgeschichte, das die Machbarkeit der Fusionsenergie demonstrieren soll.
ITER ist ein Tokamak-Reaktor, eine Bauart, die auf dem Prinzip des magnetischen Einschlusses basiert. In seinem Inneren wird ein extrem heißes Plasma erzeugt, in dem Wasserstoffisotope zu Helium verschmelzen und dabei enorme Energiemengen freisetzen. Um diesen Prozess zu ermöglichen, müssen jedoch Temperaturen von über 100 Millionen Grad Celsius erreicht werden – weit heißer als im Kern der Sonne. Diese Temperaturen sind notwendig, da auf der Erde, anders als in der Sonne, die Fusion mit schwereren Wasserstoffisotopen (Deuterium und Tritium) stattfindet, um eine effizientere Reaktion zu erzielen. Das Plasma, in dem diese Fusion stattfindet, ist so heiß, dass es jedes Material augenblicklich verdampfen würde. Daher wird es durch riesige, supraleitende Magnete in einem ringförmigen Vakuumgefäß schwebend gehalten und von den Wänden ferngehalten. Die Herstellung und der Betrieb dieser Magnete, die bei extrem tiefen Temperaturen von -269°C, nur 4° über dem absoluten Nullpunkt, arbeiten, stellen eine enorme technische Meisterleistung dar. Um diese Temperaturen zu erreichen, wurde für ITER die weltgrößte Heliumkälteanlage gebaut.
Die Herausforderungen bei der Realisierung von ITER sind vielfältig. Neben der Erzeugung und Kontrolle des extrem heißen Plasmas müssen die Materialien, die die Innenwände des Reaktors auskleiden – darunter Beryllium und Wolfram – dem intensiven Neutronenbeschuss und den extremen Temperaturen standhalten. Ein weiteres Problem ist die Beschaffung von Tritium, einem radioaktiven Isotop, das als Brennstoff benötigt wird. Da es auf der Erde kaum vorkommt, wird es direkt im Reaktor durch die Spaltung von Lithium erzeugt.
ITER ist jedoch nicht nur ein technologisches, sondern auch ein logistisches und politisches Mammutprojekt. 35 Nationen sind an diesem Unterfangen beteiligt, was eine komplexe internationale Zusammenarbeit erfordert, die auch durch die Corona-Pandemie vor zusätzliche Herausforderungen gestellt wurde. Ziel des Projektes ist es, ein „brennendes Plasma“ zu erzeugen, das sich durch die Fusionsreaktion selbst aufheizt und somit mehr Energie freisetzt, als zu seiner Erzeugung benötigt wird. Dieses Ziel markiert einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einem kommerziell nutzbaren Fusionskraftwerk.
Neben dem Tokamak-Ansatz existieren auch andere Konzepte zur Nutzung der Kernfusion, wie die Trägheitsfusion, bei der Wasserstoffkugeln durch Laserstrahlen implodiert werden. Das Unternehmen First Light Fusion beispielsweise lässt sich von der Schockwelle eines Knallkrebses inspirieren, um einen alternativen Ansatz zu verfolgen. Trotz dieser unterschiedlichen Ansätze sind sich die meisten Wissenschaftler einig, dass die kommerzielle Nutzung der Fusionsenergie noch einige Jahrzehnte entfernt ist. Die Erzeugung und Aufrechterhaltung des Plasmas verbraucht momentan mehr Energie, als durch die Fusion gewonnen wird. Dies stellt die größte physikalische Herausforderung dar. Erst wenn ein „brennendes Plasma“ erzeugt werden kann, wäre die Voraussetzung für ein nutzbares Fusionskraftwerk gegeben.
Trotz dieser Herausforderungen ist die Motivation der beteiligten Wissenschaftler und Ingenieure ungebrochen. Sie sehen in der Kernfusion eine entscheidende Technologie, um die drohende Energiekrise zu bewältigen und den Planeten vor den Folgen des Klimawandels zu bewahren. Die Montage des ITER-Reaktors, die aktuell in vollem Gange ist, ist ein wichtiger Meilenstein. Das erste Plasma soll bis 2025 erzeugt werden. Bis dahin bleibt die Kernfusion ein faszinierendes und vielversprechendes Feld, das die Grenzen des wissenschaftlich und technologisch Machbaren immer weiter hinausschiebt und die Hoffnung auf eine nachhaltige Energiezukunft nährt. Die Überwindung der technischen Hürden, insbesondere die Erzielung einer positiven Energiebilanz durch ein selbsterhitzendes Plasma, bleibt die zentrale Herausforderung auf diesem Weg.