„Wer das verhindern will, der darf den Kapitalismus nicht stützen, er muss ihn stürzen.“ Mit diesem Satz hat Heidi Reichinnek, Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, eine Welle der Empörung ausgelöst – nicht nur bei politischen Gegnern, sondern auch in Teilen der medialen Öffentlichkeit. Doch was steckt hinter dieser radikalen Wortwahl? Ist es der Aufruf zur Revolution oder eine zugespitzte Diagnose des kriselnden Systems?
Eine fundamentale Systemkritik – aus der Mitte der Demokratie?
Reichinneks Äußerung ist ein Frontalangriff auf den bestehenden wirtschaftlichen Status quo. Sie beklagt die zunehmende soziale Spaltung, die Konzentration von Vermögen in den Händen weniger und die Aushöhlung des Sozialstaats. Diese Kritik ist weder neu noch exklusiv links. Auch zahlreiche Studien belegen: Die Vermögensungleichheit in Deutschland wächst, während soziale Aufstiegschancen stagnieren. Doch Reichinnek geht einen Schritt weiter – sie fordert, das gesamte System zu stürzen und durch einen „demokratischen Sozialismus“ zu ersetzen.
Dieser Begriff ist jedoch alles andere als eindeutig. Zwar betont sie die Abgrenzung zur DDR und verweist auf die Aufarbeitung der SED-Vergangenheit, doch bleibt sie vage, was die konkrete Ausgestaltung betrifft. Wie sieht ein demokratischer Sozialismus in der Praxis aus? Wie sollen Eigentumsrechte, Marktmechanismen oder unternehmerische Freiheit gestaltet sein? Welche Rolle spielen dabei staatliche Eingriffe und demokratische Kontrolle? Solche Fragen bleiben offen.
Die Rhetorik des Umsturzes – politisches Kalkül oder strategische Kurzsichtigkeit?
Mit Begriffen wie „Sturz“ und „Widerstand“ bedient Reichinnek ein Narrativ, das eher an außerparlamentarischen Aktivismus erinnert als an verantwortungsvolle Regierungsfähigkeit. In einer Zeit, in der gesellschaftliche Polarisierung zunimmt und demokratische Institutionen unter Druck geraten, ist diese Wortwahl hochriskant. Denn sie spielt nicht nur radikalen Kräften von rechts in die Hände, die sich nun auf die Verteidigung der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ berufen, sondern entfremdet auch moderate Wählerinnen und Wähler, die zwar Veränderungen wünschen, aber keine revolutionären Umbrüche.
Ironischerweise wird gerade die Partei Die Linke, die sich in einem schwierigen Reprofilierungsprozess befindet, durch solche Aussagen in eine Ecke gedrängt, aus der sie mühsam herauszukommen versucht. Während Sahra Wagenknecht mit ihrer neuen Partei das linkspopulistische Protestwählerklientel bedient, sendet Reichinnek ein Signal, das kaum Anschlussfähigkeit für eine pragmatisch gesinnte Wählerschaft bietet.
Kapitalismuskritik ja – aber bitte mit Konzept
Dass der Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Form massive Probleme erzeugt, ist unbestritten. Klimakrise, soziale Spaltung, globaler Ressourcenraubbau – all das sind Symptome eines Systems, das auf Wachstum, Konkurrenz und Profitmaximierung ausgerichtet ist. Doch ein bloßer Sturzaufruf ohne tragfähiges Alternativmodell wirkt hilflos – oder gefährlich populistisch.
Erfolgreiche Systemkritik muss mehr leisten als markige Worte. Sie muss gesellschaftliche Mehrheiten gewinnen, konkrete Transformationspfade aufzeigen und dabei anschlussfähig bleiben. Der „demokratische Sozialismus“ als bloße Chiffre erfüllt diesen Anspruch nicht.
Fazit: Ein Schuss ins eigene Bein?
Reichinneks Aufruf mag aufrüttelnd gemeint gewesen sein, doch er offenbart das Dilemma vieler linker Bewegungen: die moralische Überlegenheit im Anspruch, gepaart mit politischer Sprachlosigkeit in der Umsetzung. Wer den Kapitalismus stürzen will, muss erklären, wie er eine gerechtere Ordnung schaffen will – im Rahmen der Demokratie, mit realpolitischem Gespür und gesellschaftlichem Rückhalt. Andernfalls bleibt nur die Pose des Widerstands, ohne Aussicht auf Veränderung.
Denn: Ein System stürzt man nicht durch Worte – man überwindet es durch bessere Ideen.