Eine neue Studie des Bundesamtes für Statistik zeigt einen klaren gesellschaftlichen Trend: Junge Erwachsene in der Schweiz zögern den Schritt in die Eigenständigkeit markant länger hinaus als frühere Generationen. Besonders Männer lassen sich Zeit. Dies hat nicht nur soziale, sondern auch handfeste ökonomische Konsequenzen für den Immobilien- und Konsumgütermarkt.
Neuchâtel – Die Zahlen sind unmissverständlich: Wer heute in der Schweiz aufwächst, bleibt länger im elterlichen Haushalt. Lag das Medianalter für den Auszug bei den Geburtenjahrgängen 1968 bis 1987 noch bei 21,9 Jahren, so hat es sich bei der nachfolgenden Generation (1988-2007) auf 23,7 Jahre erhöht. Das sind fast zwei volle Jahre mehr, in denen junge Erwachsene keine eigene Wohnung mieten, keine eigene Küche einrichten und finanziell weniger auf eigenen Beinen stehen. Diese Entwicklung, die eine aktuelle Erhebung des Bundesamtes für Statistik (BFS) offenlegt, zeichnet das Bild einer Generation im Zaudermodus.
Auffallend sind die tiefen Gräben zwischen den Geschlechtern. Während junge Frauen im Schnitt mit 21,9 Jahren flügge werden, geniessen junge Männer die Annehmlichkeiten des „Hotel Mama“ deutlich länger. Sie ziehen im Mittel erst mit 23,4 Jahren aus – ein Unterschied von anderthalb Jahren. Diese traditionelle Rollenverteilung scheint tief verankert.
Der Bildungsfaktor: Akademiker gleichen sich an
Ein interessantes Korrektiv liefert der Bildungsstand. Ein Hochschulabschluss scheint die Geschlechterunterschiede nahezu zu nivellieren. Bei Akademikern beträgt die Differenz nur noch 0,7 Jahre. Bei den jüngsten Jahrgängen mit Tertiärabschluss ist sie praktisch verschwunden. Dies deutet darauf hin, dass mit höherer Bildung auch ein moderneres Verständnis von Lebensplanung und partnerschaftlicher Gleichheit einhergeht – oder dass die längere Ausbildungszeit den Auszug für beide Geschlechter gleichermassen verzögert.
Kulturelle Prägung stärker als Urbanität
Entgegen der Erwartung spielt es kaum eine Rolle, ob jemand in einer Grossstadt oder auf dem Land aufwächst. Weit entscheidender ist die Sprachregion: In der italienischsprachigen Schweiz ist die familiäre Bindung am stärksten ausgeprägt. Dort erfolgt der Auszug mit durchschnittlich 24,4 Jahren am spätesten. Die Deutschschweiz (22,5) und die Romandie (22,8) sind hier deutlich schneller.
Die Nabelschnur bleibt kurz – auch nach dem Auszug
Wer glaubt, mit dem Auszug beginne die vollständige Unabhängigkeit, irrt. Die Studie zeigt, dass die geografische und emotionale Distanz zu den Eltern gering bleibt. Über 60 Prozent der Ausgezogenen leben weniger als eine Stunde vom Elternhaus entfernt. Der Kontakt ist intensiv: Ein Drittel pflegt täglichen Austausch, 80 Prozent mindestens wöchentlichen. Diese enge Bindung sichert soziale Netzwerke, könnte aber auch die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt einschränken.
Fazit für die Wirtschaft
Der Trend zum späteren Auszug ist mehr als eine soziologische Fussnote. Er hat direkte Auswirkungen auf die Volkswirtschaft. Eine spätere Haushaltsgründung bedeutet eine gedämpfte Nachfrage nach kleinen Mietwohnungen, Möbeln, Haushaltsgeräten und Versicherungen. Für die Immobilienbranche und den Detailhandel bedeutet die „Generation Nesthocker“ eine Verschiebung der Nachfragezyklen. Die Gründe mögen in hohen Mieten und einer längeren Ausbildungsdauer liegen, doch das Ergebnis ist eine verlängerte ökonomische Abhängigkeit, die den Start ins voll eigenverantwortliche Erwachsenenleben verzögert. Die Schweiz muss sich fragen, welche Rahmenbedingungen sie schaffen muss, um jungen Menschen den Weg in die Selbstständigkeit wieder zu erleichtern.
Zusammenfassung: Von zu Hause ausziehen (Statistik Aktuell, Oktober 2025)
Der Bericht analysiert das Auszugsverhalten junger Menschen aus dem Elternhaus in der Schweiz. Die zentralen Ergebnisse zeigen, dass junge Menschen heute tendenziell länger zu Hause wohnen als frühere Generationen und dass Faktoren wie Geschlecht, Bildung und Herkunft eine wichtige Rolle spielen. Nach dem Auszug bleiben die meisten in engem Kontakt und geografischer Nähe zu ihren Eltern.
Kernerkenntnisse zum Auszugsalter
- Durchschnittliches Auszugsalter: Die Hälfte der Bevölkerung in der Schweiz ist im Alter von knapp 23 Jahren aus dem Elternhaus ausgezogen.
- Trend zum späteren Auszug: Junge Menschen ziehen heute später aus als vor 20 Jahren.
- Jahrgänge 1988–2007: Die Hälfte ist mit 23,7 Jahren ausgezogen.
- Jahrgänge 1968–1987: Die Hälfte war bereits mit 21,9 Jahren ausgezogen.
- Der Unterschied ist besonders im Alter von 20 Jahren markant: Von den Jüngeren waren erst 19% ausgezogen, von den Älteren bereits 30%.
Einflussfaktoren auf das Auszugsalter
- Geschlecht: Frauen ziehen deutlich früher aus als Männer.
- Frauen: 50% sind mit 21,9 Jahren ausgezogen.
- Männer: 50% sind mit 23,4 Jahren ausgezogen (1,5 Jahre später).
- Bildung: Ein hoher Bildungsstand verringert den Geschlechterunterschied.
- Ohne Tertiärabschluss: Die Geschlechterdifferenz beträgt rund zwei Jahre.
- Mit Tertiärabschluss: Die Differenz schrumpft auf 0,7 Jahre. Bei den jüngsten Jahrgängen (1988-2007) mit Tertiärabschluss gibt es praktisch keinen Unterschied mehr (Frauen: 23,3 Jahre, Männer: 23,4 Jahre).
- Sprachregion: Junge Menschen aus der italienischsprachigen Schweiz ziehen am spätesten aus (Median: 24,4 Jahre), verglichen mit der Deutschschweiz (22,5 Jahre) und der Romandie (22,8 Jahre).
- Staatsangehörigkeit: Schweizerinnen und Schweizer ziehen im Alter von 20 Jahren seltener aus (22%) als Personen aus Nachbarländern (35%) oder anderen Ländern (31%). Bis zum Alter von 30 Jahren gleicht sich dies jedoch weitgehend an.
Das Leben nach dem Auszug
- Distanz zu den Eltern: Die Mehrheit wohnt nahe bei den Eltern.
- 61% haben eine Reisedauer von maximal einer Stunde zu den Eltern.
- 22% benötigen maximal 10 Minuten.
- Personen, die erst kürzlich (in den letzten 5 Jahren) ausgezogen sind, wohnen näher bei den Eltern als jene, die schon länger weg sind.
- Personen in ländlichen Gebieten wohnen näher als jene in Grossstädten.
- Kontakt zu den Eltern: Der Kontakt ist sehr rege.
- Ein Drittel (35%) hat praktisch täglich Kontakt.
- 80% haben mindestens einmal pro Woche Kontakt.
- Frauen haben deutlich häufiger täglichen Kontakt (45%) als Männer (24%).
- Personen mit eigenen Kindern haben ebenfalls häufiger Kontakt (41% vs. 31%).
- Die Kontakthäufigkeit ist in der italienischen Schweiz am höchsten (53% täglich).
- Wohnsituation: Die Wohnform ändert sich mit dem Alter.
- Gesamttrend (2013-2023): Der Anteil der Alleinlebenden und Personen in Wohngemeinschaften (WGs) hat zugenommen, während der Anteil derer, die mit Kindern leben, gesunken ist.
- Bei Kinderlosen:
- 20-29-Jährige: Wohnen oft in WGs (24%).
- 30-39-Jährige: Wohnen meist allein (38%) oder als Paar (53%). WGs sind selten (8%).
- Frisch Ausgezogene leben deutlich häufiger in WGs als jene, die schon länger von zu Hause weg sind.