Die Drucksache 21/972 enthält die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur humanitären Hilfe in Gaza im Kontext der jüngsten Entwicklungen seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der Abriegelung des Gazastreifens durch Israel ab dem 2. März 2025.
Kernaussagen der Fragesteller:
Die Fragesteller schildern eine dramatische humanitäre Lage in Gaza. Nach der vollständigen Blockade des Gebiets durch Israel sei für mindestens zehn Wochen keine humanitäre Hilfe eingeführt worden. Dies habe eine massive Hungersnot ausgelöst. Über 400.000 Menschen seien vom Hungertod bedroht. Auch die medizinische Infrastruktur sei weitgehend zerstört. Organisationen wie WHO, WFP und UN berichten von dramatischen Zuständen: 1.400 medizinische Helfer und über 400 humanitäre Helfer wurden seit Oktober 2023 getötet. Die neu geschaffene „Gaza Humanitarian Foundation“ (GHF), initiiert von Israel und den USA, sei aus Sicht der Fragesteller ungeeignet, da sie militärisch kontrolliert werde und humanitäre Prinzipien wie Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit verletze. Die GHF solle nur vier statt zuvor 400 Verteilzentren betreiben und könne daher maximal 60 % der Bevölkerung erreichen. Sie befürchten eine Instrumentalisierung der Hilfe zur Zwangsvertreibung.
Antwort der Bundesregierung:
Die Bundesregierung erkennt die katastrophale humanitäre Lage an und spricht sich klar für humanitäre Hilfe unabhängig von Waffenstillständen aus. Seit Oktober 2023 habe sie bis zu 330 Millionen Euro für humanitäre Hilfe in den Palästinensischen Gebieten, insbesondere Gaza, bereitgestellt. Sie begrüßt eine Einigung vom 10. Juli 2025 zwischen Israel und der EU, mahnt jedoch deren schnelle Umsetzung an.
Wesentliche Aussagen der Bundesregierung:
- Humanitäre Blockade: Die Bundesregierung kritisiert, dass sich aus der Blockade keine friedensfördernden Dynamiken ergeben hätten und warnt vor der Instrumentalisierung humanitärer Hilfe als politisches Druckmittel.
- Versorgungslage: Sie hat keine eigenen Erkenntnisse, stützt sich auf Berichte der IPC, nach denen die gesamte Bevölkerung (2,1 Millionen) unter akutem Hunger leidet. Über 1,1 Millionen Menschen befinden sich in einer Notlage, 470.000 sind vom Hungertod bedroht. Die medizinische Versorgung steht kurz vor dem Kollaps.
- Missbrauch durch Hamas: Es gibt Hinweise, dass Hamas Hilfsgüter für sich abzweigt, aber keine abschließenden Erkenntnisse. Die UN und NGOs hätten Risikomanagementsysteme etabliert, um Missbrauch zu verhindern.
- GHF-Verteilmechanismus: Die Bundesregierung hält den Mechanismus der GHF für unzureichend, da er weder die gesamte Zivilbevölkerung erreiche noch den humanitären Prinzipien genüge. Es bestehen Zweifel an Transparenz, Praktikabilität und Schutz der Helfer.
- Finanzierung: Die GHF wird laut US-Angaben von den USA finanziert. Deutschland unterstützt sie nicht finanziell. Stattdessen fließen Mittel an bewährte Organisationen wie das WFP, WHO, UNWRA, Oxfam, DRK, Caritas u. a.
- Gesundheitssystem: Laut UN sind nur noch 50 % der Krankenhäuser teilweise funktionsfähig. Es fehlen Medikamente, Treibstoff und medizinisches Personal.
- Kinder und besonders gefährdete Gruppen: Über 1 Million Kinder benötigen psychologische Hilfe, fast 95 % der Schulen sind zerstört, viele Kinder leiden unter Mangelernährung. Besonders gefährdete Gruppen wie Ältere und Menschen mit Behinderungen sind schwer zu erreichen.
- Medizinische Evakuierungen: Deutschland hat seit der Blockade keine medizinischen Evakuierungen durchgeführt, unterstützt aber in Einzelfällen zivilgesellschaftliche Initiativen zur Behandlung Schwerverletzter in Deutschland.
- Schutz humanitärer Helfer: Die Bundesregierung zeigt sich angesichts der hohen Zahl getöteter Helfer besorgt und fordert Israel zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts auf.
- Diplomatische Maßnahmen: Deutschland setzt sich in verschiedenen Foren (EU, G7, UN) für eine Rückkehr zur Waffenruhe, einen besseren Zugang für humanitäre Hilfe und eine nachhaltige Friedenslösung ein.
Kritische Einordnung:
Die Antwort der Bundesregierung zeigt eine prinzipiell klare Haltung zugunsten der humanitären Standards und einer Zweistaatenlösung, lässt aber teils Konkretheit vermissen. Besonders auffällig ist das Fehlen eigener belastbarer Erkenntnisse zur Lage vor Ort. Dass die Bundesregierung sich nicht aktiv an medizinischen Evakuierungen beteiligt hat, obwohl die Lage dramatisch ist, könnte als politische Zurückhaltung interpretiert werden. Die Ablehnung der GHF ist ein deutliches Signal gegen eine Politisierung der humanitären Hilfe. Allerdings stellt sich die Frage, wie wirksam diese Kritik ist, solange keine Alternativen durchgesetzt werden können. Auch bleibt unklar, wie konkret die Bundesregierung Israel zur Öffnung Gazas bewegen will – hier bleibt es bei Appellen und diplomatischen Standardsätzen.
Fazit:
Die Drucksache ist ein Dokument massiver humanitärer Verwerfungen, diplomatischer Ohnmacht und politisch wie ethisch heikler Abwägungen. Sie zeigt, wie fragil die Balance zwischen Sicherheitsinteressen, geopolitischer Bündnistreue und humanitärer Verantwortung geworden ist – ein Prüfstein für die Werteorientierung deutscher Außenpolitik.