Deutschland hat sich zur Inklusion bekannt – auf dem Papier. In der schulischen Praxis aber zeigt sich ein ernüchterndes Bild. Lehrkräftemangel, unzureichende Ausstattung und fehlende Ausbildung gefährden das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung. Eine Bestandsaufnahme.
Im Jahr 2009 ratifizierte die Bundesrepublik Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention – ein Meilenstein für die Rechte von Menschen mit Behinderung. Damit verpflichtete sich das Land, ein inklusives Bildungssystem zu verwirklichen, in dem Kinder mit und ohne Förderbedarf gemeinsam lernen und aufwachsen. Doch 15 Jahre später ist Inklusion in deutschen Klassenzimmern eher Ausnahme als Regel. Was als gesellschaftlicher Fortschritt gedacht war, scheitert in der Realität häufig an den Strukturen des Bildungssystems.
Zwischen Ideal und Alltag
Die Idee, dass alle Kinder unabhängig von körperlichen oder geistigen Einschränkungen gemeinsam unterrichtet werden, stößt in der Praxis schnell an Grenzen. Lehrkräfte sehen sich mit Herausforderungen konfrontiert, auf die sie weder ausreichend vorbereitet noch personell unterstützt sind. Eine repräsentative Umfrage des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) unter rund 2 700 Lehrkräften belegt den Spagat zwischen Idealismus und Wirklichkeit: Während 62 % Inklusion grundsätzlich befürworten, halten nur 28 % die Umsetzung für realistisch. Beinahe 70 % der Befragten sprechen sich unter den aktuellen Bedingungen für eine Rückkehr zur Förderschule aus.
Das überrascht nicht, wenn man die strukturellen Defizite betrachtet. In vielen Schulen fehlt es an sonderpädagogischem Fachpersonal. Eine Doppelbesetzung mit Lehrkraft und Sonderpädagoge, die als Grundvoraussetzung für gelingende Inklusion gilt, existiert oft nur auf dem Papier. Selbst wenn Sonderpädagoginnen anwesend sind, betreuen sie meist mehrere Klassen oder gar Schulstandorte gleichzeitig.
Barrierefreiheit – mehr als Rampen und Aufzüge
Auch die räumliche und technische Ausstattung der Schulen hinkt hinterher. In der VBE-Umfrage berichten fast die Hälfte der Lehrkräfte, dass ihre Schule nicht barrierefrei ist. Dabei geht es längst nicht nur um bauliche Aspekte wie Treppen und Türen. Barrierefreiheit bedeutet auch: ausreichende Beleuchtung, vergrößerte Lernmaterialien, akustische Hilfen oder Rückzugsräume. Dass viele Schulen diese Standards nicht erfüllen, ist Ausdruck eines Bildungssystems, das die Vielfalt seiner Schülerinnen und Schüler nicht ernst genug nimmt.
Ein System ohne Ausbildung
Erschwerend kommt hinzu: Die Lehrerinnen und Lehrer sind häufig auf sich allein gestellt. Inklusion ist im Lehramtsstudium kaum verankert, Fortbildungen sind rar oder freiwillig. Laut Umfrage verfügen fast 50 % der Befragten über keinerlei sonderpädagogisches Wissen. Viele berichten, sich das nötige Know-how im Alltag selbst aneignen zu müssen – ein unhaltbarer Zustand angesichts der Komplexität individueller Förderbedarfe.
Ländersache mit Folgen
Hinzu tritt die föderale Organisation des deutschen Bildungssystems. Je nach Bundesland sind die Voraussetzungen für Inklusion sehr unterschiedlich. In Bayern und Niedersachsen etwa sind Schulen häufiger barrierefrei als im Bundesdurchschnitt. In Berlin dagegen ist nur jede zweite Schule entsprechend ausgestattet. Bildungsungleichheit wird hier nicht nur individuell, sondern auch regional reproduziert.
Was muss sich ändern?
Die Lösung liegt auf der Hand – und ist politisch unbequem: Es braucht deutlich mehr sonderpädagogisch geschultes Personal, gezielte Investitionen in Schulumbauten sowie eine systematische Verankerung von Inklusion in der Lehrerbildung. Darüber hinaus müssen verlässliche Betreuungskonzepte und kleinere Klassen geschaffen werden, um dem Anspruch auf individuelle Förderung gerecht zu werden. Vor allem aber braucht es eines: den politischen Willen, Inklusion nicht als Randthema, sondern als Kernauftrag moderner Bildung zu begreifen.
Ein Hoffnungsschimmer
Immerhin gibt es auch positive Signale. Der Anteil der Lehrkräfte, die Inklusion für sinnvoll halten, ist in den letzten fünf Jahren leicht gestiegen. Und dort, wo inklusive Konzepte ernsthaft umgesetzt werden, berichten Beteiligte von bereichernden Erfahrungen – für alle Kinder. Doch solche Beispiele bleiben bislang die Ausnahme.
Fazit
Inklusion ist kein Luxusprojekt, sondern ein Menschenrecht. Wer es ernst meint mit Chancengleichheit, darf sich nicht länger mit Absichtserklärungen begnügen. Zwischen politischem Ideal und schulischer Wirklichkeit klafft eine Lücke, die größer zu werden droht. Inklusion kann gelingen – aber nicht ohne Ressourcen, Ausbildung und ein Umdenken in der Bildungspolitik. Sonst bleibt sie ein leeres Versprechen.