Mit seiner mit Spannung erwarteten Rede auf dem alljährlichen Zentralbank-Symposium in Jackson Hole hat Jerome Powell, Vorsitzender der US-Notenbank Federal Reserve, ein differenziertes und in Teilen auch selbstkritisches Bild der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage und der zukünftigen geldpolitischen Ausrichtung gezeichnet. Die Rede markiert nicht nur eine Standortbestimmung der US-Geldpolitik nach dem Inflationsschock der vergangenen Jahre, sondern auch eine vorsichtige Revision jenes geldpolitischen Rahmens, der in der Ära nach der globalen Finanzkrise entstand und nun auf den Prüfstand gestellt wird.
I. Eine Wirtschaft im Übergang: Wachstum, Arbeitsmarkt und Inflationsdruck
Powells Einschätzungen zur aktuellen Wirtschaftslage sind geprägt von Ambivalenz. Zwar hat sich die US-Inflation seit ihren pandemiebedingten Spitzenwerten merklich beruhigt, doch bleibt die ökonomische Gemengelage komplex – insbesondere angesichts geopolitischer Unsicherheiten, struktureller Veränderungen im Arbeitsmarkt und neuen protektionistischen Tendenzen im Welthandel.
A. Der Arbeitsmarkt: Zwischen Stabilität und Fragilität
Der Arbeitsmarkt befindet sich in einem „merkwürdigen Gleichgewicht“: Die Arbeitslosenquote bleibt mit 4,2 % historisch niedrig, doch das Wachstum der Beschäftigung hat sich spürbar verlangsamt – von durchschnittlich 168.000 neuen Stellen monatlich im Jahr 2024 auf nur noch 35.000 im Sommer 2025. Dieses Phänomen ist Ausdruck einer doppelten Verlangsamung – sowohl bei Angebot als auch Nachfrage –, die durch restriktivere Einwanderungspolitik und eine stagnierende Erwerbsbeteiligung zusätzlich verschärft wird. Powell erkennt hierin ein wachsendes Risiko: Die scheinbare Stabilität könnte sich bei exogenen Schocks schnell in steigende Arbeitslosigkeit verkehren.
B. Wirtschaftswachstum: Verlangsamung mit strukturellen Ursachen
Das reale BIP-Wachstum der USA liegt mit 1,2–2 % nur noch halb so hoch wie im Vorjahr. Diese Schwäche ist nicht nur Ausdruck gedämpfter Konsumnachfrage, sondern möglicherweise auch ein Resultat struktureller Faktoren wie sinkender Produktivitätszuwächse oder demografischer Verschiebungen. Solche Entwicklungen könnten den potenziellen Output der US-Volkswirtschaft auf lange Sicht beschneiden – ein Umstand, der geldpolitisch schwerwiegende Implikationen hat, da er das neutrale Zinsniveau tendenziell anhebt.
C. Inflation: Zunehmende externe Preistreiber und latente Risiken
Besonders besorgniserregend ist die neuerliche Beschleunigung des Preisauftriebs in bestimmten Segmenten, die durch eine Zunahme von Handelsbarrieren – konkret höhere Zölle – induziert wurde. Diese Effekte zeigen sich laut Powell „klar sichtbar“ in den Verbraucherpreisen und könnten sich in den kommenden Monaten verstärken. Zwar liegt die Gesamtinflation laut PCE-Index bei moderaten 2,6 %, doch die Kerninflation (exkl. Lebensmittel und Energie) stagniert hartnäckig bei 2,9 % – deutlich oberhalb des 2 %-Ziels. Vor allem die Dienstleistungsinflation – ohne Wohnkosten – bleibt erhöht und birgt die Gefahr einer dauerhaften Lohn-Preis-Spirale, sollten die Erwartungen entankert werden. Bislang allerdings bleiben die längerfristigen Inflationserwartungen laut Fed „gut verankert“.
D. Geldpolitische Konsequenzen: Balanceakt zwischen zwei Risiken
Die geldpolitischen Implikationen dieser Diagnose sind nicht trivial: Die Fed befindet sich in einem klassischen Zielkonflikt. Während die Abwärtsrisiken für den Arbeitsmarkt steigen, bleibt das Inflationsrisiko latent präsent. Powell bekräftigt, dass der derzeitige Leitzins – real betrachtet restriktiv – eine angemessene Vorsicht erlaubt. Gleichwohl macht er deutlich, dass die Federal Reserve ihre Politik „datenabhängig“ anpassen werde, sollte sich die Risikobalance weiter verschieben. Besonders interessant ist der Hinweis, dass der sogenannte neutrale Zinssatz inzwischen wohl höher liegt als in den 2010er Jahren – eine Erkenntnis, die langfristig eine restriktivere Grundhaltung nahelegt.
II. Reform des geldpolitischen Rahmens: Rückkehr zu mehr Pragmatismus
Neben der Analyse der konjunkturellen Lage hat Powell auch substanzielle Änderungen am geldpolitischen Rahmenwerk der Fed vorgestellt – ein Schritt, der in der Fachwelt seit Längerem gefordert wurde. Der Kern dieser Revision besteht in der Korrektur von Fehlannahmen und überzogenen geldpolitischen Erwartungen, die sich vor allem aus der „Make-up-Strategie“ des Jahres 2020 ergaben.
A. Abkehr vom Average Inflation Targeting (AIT)
Die pandemiebedingte Überhitzung der Inflation hat die Logik des 2020 eingeführten „flexible average inflation targeting“ (AIT) ad absurdum geführt. Die Vorstellung, dass die Fed nach Phasen niedriger Inflation bewusst eine Phase höherer Inflation zulassen sollte, hat sich angesichts realer Inflationsraten von über 8 % als theoretisch zwar elegant, praktisch jedoch dysfunktional erwiesen. Mit der Rückkehr zu einem klassischen, flexiblen Inflationsziel entledigt sich die Fed einer konzeptionellen Bürde, die ihre Reaktionsfähigkeit in Inflationsphasen unnötig eingeschränkt hatte.
B. Neue Akzentsetzung bei der Beschäftigung
Eine weitere Änderung betrifft die Gewichtung des Ziels „maximale Beschäftigung“. Während die Fed bislang „shortfalls“ – also Unterschreitungen dieses Ziels – besonders stark gewichtet hatte, setzt sie nun auf eine neutralere Formulierung, die auch Überhitzungstendenzen am Arbeitsmarkt berücksichtigt. Dies stärkt die Handlungsautonomie der Notenbank in Phasen erhöhter Arbeitsmarktdynamik, ohne sofort preisstabilisierende Maßnahmen zu kompromittieren.
C. Klare Kommunikation im Zielkonflikt
Die neue Konsenserklärung betont explizit die Notwendigkeit eines „ausgewogenen Ansatzes“ in Phasen, in denen die Ziele Preisstabilität und maximale Beschäftigung nicht im Gleichklang stehen. Damit reagiert die Fed auf Kritik an der unklaren Kommunikation der letzten Jahre, die gerade in Phasen sprunghafter Inflation zu Irritationen in den Finanzmärkten geführt hatte.
III. Fazit: Pragmatismus statt Doktrin
Jerome Powells Rede in Jackson Hole markiert eine Rückbesinnung auf pragmatische, datenbasierte Geldpolitik – und eine Abkehr von theoretischen Modellen, die in der post-pandemischen Realität nicht tragfähig waren. Die Federal Reserve demonstriert Lernfähigkeit, ohne ihr Mandat aufzuweichen. Bemerkenswert ist dabei die Fähigkeit zur Selbstkorrektur: Powell scheut sich nicht, Elemente früherer Strategien explizit zu verwerfen, wenn sie sich als empirisch unhaltbar erwiesen haben.
Für marktliberal orientierte Beobachter ist dies ein Signal für die Rückkehr zu stabilitätsorientierter Geldpolitik, die auf Vorhersehbarkeit, Glaubwürdigkeit und Verantwortlichkeit fußt. Die Fed beansprucht erneut jene Rolle, die sie über Jahrzehnte prägte: als Hüterin eines stabilen monetären Rahmens – mit klarem Ziel, aber flexiblen Mitteln. In einer Zeit, in der wirtschaftliche Unsicherheiten zunehmen, ist dies ein beruhigendes Zeichen für Investoren, Unternehmer und Haushalte gleichermaßen.