Der Ton wird rauer im politischen Berlin: Nach dem spektakulären Scheitern der Wahl dreier Verfassungsrichter im Bundestag sehen sich CDU und ihr Fraktionschef Jens Spahn mit einer Welle der Kritik konfrontiert. Die Grünen, allen voran Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann, gehen dabei in die Offensive – mit einer offenen Infragestellung von Spahns Führungsfähigkeit und einer faktischen Rücktrittsforderung.
Der unmittelbare Anlass: Die am Freitag angesetzte Wahl der Verfassungsrichter platzte – ein in der Geschichte der Bundesrepublik äußerst seltener Vorgang. Die SPD hatte mit der renommierten Staatsrechtlerin Frauke Brosius-Gersdorf eine Kandidatin von hoher juristischer Qualität nominiert, doch offenbar versagten über 60 Unionsabgeordnete die Zustimmung. Die Wahl wurde daraufhin kurzfristig vertagt – ein parlamentarisches Armutszeugnis.
Haßelmann sprach von einem „Desaster für das Parlament“ und warf Spahn offen vor, keine handlungsfähige Mehrheit organisiert zu haben. Auch Grünen-Parteichefin Ricarda Lang zeigte sich auf der Plattform X empört: Wer als Fraktionsvorsitzender nicht einmal bei einer derart zentralen Personalie eine Zustimmung sicherstelle, habe seinen Auftrag verfehlt. Der Rücktritt Spahns sei daher eine logische Konsequenz.
Doch so eindeutig, wie es scheint, ist die Lage nicht.
Zweifellos trägt Jens Spahn Verantwortung für die misslungene Abstimmung. Ein Fraktionsvorsitzender hat in der parlamentarischen Praxis nicht nur das Mandat, sondern die Pflicht, Abstimmungen mit Zweidrittelmehrheit – wie sie bei der Richterwahl erforderlich ist – mit größter Sorgfalt vorzubereiten. Dass es überhaupt zu einer Abstimmung kommt, ohne dass die Mehrheiten gesichert sind, ist ein politischer Kardinalfehler. Und dennoch ist das Problem struktureller Natur: Die Union ist – wie auch SPD und FDP – keine monolithische Fraktion. Intransparente Absprachen, Flügelkämpfe und persönliche Eitelkeiten können jeden Abstimmungsprozess unterminieren.
Die Grünen wiederum nutzen den Eklat mit strategischem Kalkül. Die Forderung nach Spahns Rücktritt ist nicht zuletzt eine Machtdemonstration gegenüber einem konservativen Widersacher, der sich – zur Irritation mancher Ampelpolitiker – in den letzten Monaten zu einem zentralen Sprachrohr rechtskonservativer Wählerschichten aufgeschwungen hat. Besonders Spahns Äußerungen zum Umgang mit der AfD im Bundestag („nicht ignorieren, sondern argumentativ stellen“) hatten Irritationen ausgelöst. Obwohl er jede Form der Kooperation mit der AfD stets zurückgewiesen hat, weckt sein Tonfall Misstrauen – vor allem bei jenen, die die Brandmauer gegen rechts lieber mit Beton als mit Phrasen errichten.
Die Grünen spielen mit diesem Misstrauen. Sie stellen keine direkte Koalitionsabsicht in den Raum, doch sie bedienen die Assoziation: Ein CDU-Fraktionschef, der AfD-Wähler „ernst nimmt“, der eine Richterwahl platzen lässt – könnte er nicht doch insgeheim Allianzen jenseits der Brandmauer schmieden?
Diese Unterstellung ist politisch effektiv, aber inhaltlich angreifbar. Jens Spahn mag ein ambitionierter Machtpolitiker sein, doch bislang gibt es keine faktische Grundlage für eine Annäherung an die AfD. Wer ihm dennoch eine solche Agenda unterstellt, verkennt sowohl die Mechanismen der Bundestagsarithmetik als auch die innerparteilichen Realitäten in der Union. Eine CDU unter Friedrich Merz und Jens Spahn mag in Teilen konservativer auftreten, aber sie weiß auch, dass jede Kooperation mit der AfD politischer Selbstmord wäre.
Was bleibt, ist ein beschädigter Fraktionschef – und ein erodierendes Vertrauen in die politische Steuerungsfähigkeit der Union. Spahns Position ist geschwächt, seine Autorität angeschlagen. Doch ein Rücktritt würde das strukturelle Problem nicht lösen, sondern nur vertuschen. Denn der eigentliche Skandal liegt nicht nur in Spahns Versagen, sondern in der Tatsache, dass parlamentarische Grundfunktionen – wie die Wahl von Verfassungsrichtern – zunehmend zum Spielball parteitaktischer Manöver werden.
Die Grünen haben recht: Jens Spahn muss sich fragen lassen, ob er sein Amt noch im Sinne des Parlaments ausfüllt. Doch wer das Problem auf eine Personalie reduziert, macht es sich zu einfach. Das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit unserer Demokratie hängt an mehr als nur einem Namen. Es hängt an der Ernsthaftigkeit, mit der Parlamentarier ihre Verantwortung wahrnehmen – parteiübergreifend.