Kristin Helberg und die neue deutsche Erinnerungspolitik – Eine Gratwanderung mit Abgrund

Kristin Helberg ist eine Stimme, die Gehör findet. Als Nahostexpertin, die sich mit Verve für die palästinensische Zivilbevölkerung einsetzt und die israelische Regierung offen kritisiert, spricht sie aus, was viele im linken politischen Spektrum nur hinter vorgehaltener Hand zu sagen wagen. Ihre Argumente sind scharf, gut informiert, moralisch grundiert – und zugleich hochgradig fragwürdig. Denn was auf den ersten Blick wie eine ethische Korrektur der deutschen Israel-Politik wirkt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ideologisches Minenfeld, in dem Erinnerungspolitik, Außenpolitik und Moral gefährlich ineinander verstrickt werden.

Helbergs zentrale These: Deutschland sei „Gefangener seiner Vergangenheit“. Gemeint ist die politische Konsequenz, aus dem Holocaust eine nahezu bedingungslose Solidarität mit dem Staat Israel abzuleiten – eine Konsequenz, die sie für überholt, ja sogar für gefährlich hält. Stattdessen fordert sie eine individualisierte Verantwortung: Nicht eine abstrakte „Staatsräson“ solle Maßstab sein, sondern das persönliche moralische Urteil über Recht und Unrecht – auch im Blick auf Gaza.

Diese Umdeutung ist nicht einfach nur mutig, sie ist brandgefährlich. Denn sie stellt – wenn auch gut gemeint – die historische Singularität der Shoah zur Disposition. Wenn aus dem deutschen „Nie wieder!“ ein allgemeines „Nie wieder Unrecht – egal wo, egal wem“ wird, verliert die deutsche Erinnerungskultur ihren spezifischen Gegenstand. Israel wird dann nicht mehr als historische Notwendigkeit betrachtet, sondern als regulärer Staat, der sich wie jeder andere an universelle Menschenrechte zu halten habe. Wer so argumentiert, hat den moralischen Kompass – mit Blick auf das 20. Jahrhundert – falsch eingenordet.

Die Ambivalenz wird besonders deutlich im Vergleich mit jüngsten Äußerungen aus dem extrem rechten Lager. Als AfD-Mann Maximilian Krah behauptete, nicht jeder SS-Mann sei ein Verbrecher gewesen, war der Aufschrei zu Recht groß. Die kollektive Verantwortung einer ideologisch durchdrungenen Organisation wie der SS wurde hier relativiert – ein Tabubruch. Und doch stellt sich die Frage: Ist es nicht ebenso problematisch, wenn Helberg die staatlich-politische Konsequenz aus dem Holocaust infrage stellt? Wenn sie fordert, man solle die Lehren aus Auschwitz neu interpretieren, um aktuelle israelische Politik moralisch zu verurteilen?

Der entscheidende Unterschied liegt in der Absicht – der Effekt jedoch ähnelt sich. Denn auch Helbergs Position schwächt die historische Sonderstellung jüdischer Existenz in einer Welt, die deren Vernichtung systematisch geplant und größtenteils vollzogen hat. Die Lehre aus dem Holocaust ist eben nicht nur, Unrecht zu verhindern – sondern jüdisches Leben zu schützen. Politisch, institutionell, notfalls militärisch. Israel ist kein beliebiger Akteur, sondern ein historisch legitimierter Zufluchtsstaat. Wer dies relativiert, betreibt – ob bewusst oder nicht – eine Entspezialisierung der Erinnerung, die am Ende Wasser auf die Mühlen der Geschichtsverharmloser leiten kann.

Ja, Helberg hat recht, wenn sie auf Missstände hinweist, auf die Not in Gaza, auf die zivilgesellschaftlichen Stimmen in Israel, die zu oft überhört werden. Aber ihr Vorschlag, sich aus der „Gefangenschaft der Vergangenheit“ zu befreien, ist kein emanzipatorischer Akt, sondern ein gefährlicher Kurzschluss. Wer diese Vergangenheit vergisst – oder sie funktionalisiert –, landet nicht in der Freiheit des moralischen Urteilens, sondern in einer politischen Beliebigkeit, die alles gleichmacht: Täter und Opfer, Schuld und Verantwortung, Erinnerung und Gegenwart.

Eine Demokratie darf kritisieren. Sie muss sogar. Aber sie muss auch wissen, wo der Abgrund beginnt. Und Helbergs Wegführung dorthin ist zu elegant, um nicht gefährlich zu sein.


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