Wie eine angeblich radikale Ideologie die Demokratie bedroht
Eine neue Gefahr formiert sich am rechten Rand des politischen und religiösen Spektrums, die weit über die Grenzen der USA hinausreicht: der „Christianismus“. Geprägt von dem Publizisten Andreas Püttmann, beschreibt dieser Begriff nicht den christlichen Glauben, sondern seine Umdeutung zu einer aggressiven politischen Ideologie. Getragen von radikalen Evangelikalen und Persönlichkeiten wie Donald Trump, die sich als Gesandte Gottes inszenieren, missbraucht diese Bewegung christliche Symbole für einen Kulturkampf, der rassistische, islamfeindliche und menschenverachtende Züge trägt. Diese Ideologie, die sich gegen queere Identitäten, Frauen und Migration richtet, ist eine direkte Bedrohung für demokratische Werte – und sie findet auch in Deutschland einen Resonanzboden.
Die AfD hat das strategische Potenzial dieses „Christianismus“ längst erkannt. Mit dem Versuch, sich als Verteidigerin eines vermeintlich wahren Christentums zu positionieren, will sie gezielt konfessionelle Wählerkreise erschließen. Wenn Politiker wie Beatrix von Storch eine „Erneuerungsbewegung“ auf dem Fundament von „Freiheit, Nation und Christentum“ fordern, ist dies mehr als nur Rhetorik. Es ist der manipulative Versuch, das Christentum zu einer Waffe gegen alles „Andere“ umzufunktionieren und gesellschaftliche Ängste für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.
Angesichts dieser Vereinnahmung stellt sich die drängende Frage nach der Widerstandsfähigkeit der Kirchen in Deutschland. Die Hoffnung, eine schrumpfende Mitgliederzahl führe zu einem gestärkten Kern überzeugter Gläubiger – eine „Gesundschrumpfung“ –, erweist sich zunehmend als Illusion. Stattdessen droht eine „Krankschrumpfung“, bei der vor allem jene mit autoritären Bedürfnissen verbleiben, während laute, gut vernetzte rechts-christliche Milieus im Internet eine Stärke vorspiegeln, die sie real nicht besitzen.
Beide großen Kirchen zeigen spezifische Schwachstellen. Die evangelische Kirche wird als zu „weiß, akademisch und heteronormativ“ kritisiert, was zu blinden Flecken führt. Ihre teils unreflektierte Kommunikation, wie die Ankündigung von „Dialogräumen“ für AfD-Wähler, ignoriert die Ängste der von Rechtsextremismus direkt betroffenen Menschen. Die katholische Kirche wiederum bietet durch ihren Traditionalismus, insbesondere die dogmatische Abwertung gleichgeschlechtlicher Beziehungen, ideologische Anknüpfungspunkte für rechte Weltbilder. Besorgniserregend ist zudem die Radikalisierung in manchen konservativen Kreisen, die sogar Sympathien für die nationalistische, Putin-nahe russisch-orthodoxe Kirche hegen.
Dennoch gibt es deutliche Zeichen des Widerstands. Ein Meilenstein ist der einstimmige Beschluss der katholischen Bischofskonferenz vom Februar 2024: „Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar.“ Diese klare Abgrenzung ist ein wichtiges Signal. Doch es braucht mehr: Die Kirchen müssen ihre eigene Vielfalt sichtbarer machen und lauter für die Werte von Nächstenliebe und Menschenwürde eintreten.
Eine besondere Verantwortung kommt dabei der CDU/CSU zu, deren Markenkern, das „C“, zunehmend ausgehöhlt scheint. Kritiker sehen es nur noch als „Deko-Element“, da die Partei sich von christlichen Grundwerten wie Solidarität mit den Schwächsten und der Bewahrung der Schöpfung entfernt habe. Im neuen Grundsatzprogramm wird die Partei primär als „bürgerlich“ definiert, während christliche Bezüge reduziert wurden. Dem Führungspersonal um Friedrich Merz wird eine mangelnde „Sprechfähigkeit“ in Glaubensfragen vorgeworfen. Diese inhaltliche Leere macht die Union anfällig. Insbesondere in Ostdeutschland wächst die Faszination für die AfD, und die Sorge wächst, das „C“ könnte missbraucht werden, um eine Zusammenarbeit mit den Rechtsextremen zu legitimieren.
Der Appell ist eindeutig: Das „C“ muss wieder zu einer „klaren Grenze nach rechts außen“ werden. Eine Rückbesinnung auf die genuinen christlichen Werte von Menschenwürde, Gerechtigkeit und Nächstenliebe ist nicht nur ein Gebot der Moral, sondern auch eine strategische Notwendigkeit, um dem Vormarsch der „Christianisten“ Einhalt zu gebieten und die demokratische Substanz der Gesellschaft zu verteidigen.