Linnemanns Ruf nach einer „Agenda 2030“

Wenn Carsten Linnemann den großen Gestus bemüht und eine „Agenda 2030“ nach dem Vorbild Gerhard Schröders fordert, dann möchte er klingen wie der Mann für die harten Wahrheiten. Tatsächlich klingt es eher nach einem verzweifelten Versuch, den eigenen Leuten ein Thema zu geben, das nach Kraft klingt, aber niemandem weh tut – außer jenen, die ohnehin ganz unten stehen. Wer genauer hinsieht, merkt schnell: Hinter der Chiffre „Agenda“ steckt kein Zukunftsentwurf, sondern das altbekannte Rezept von Sozialabbau und der Mär vom „faulen Bürgergeldempfänger“.

Es ist schon ein Treppenwitz der Geschichte: Ausgerechnet die CDU, die Schröders Agenda 2010 damals in Grund und Boden kritisierte, stilisiert sie heute zum Vorbild einer mutigen Reformpolitik. Was damals die SPD spaltete und der deutschen Sozialdemokratie ihre Stammwählerschaft kostete, wird nun zum Heilsversprechen für die Union hochgejazzt. Man könnte meinen, der Mythos wirkt stärker als die Erinnerung.

Der Kern des Linnemann’schen Gedankengebäudes ist schnell erzählt: Deutschland sei zu satt, zu bequem, zu sehr im Sozialstaat verhaftet. Das Bürgergeld symbolisiert für ihn diese vermeintliche Trägheit. Also müsse man, Schröder gleich, zu einschneidenden Reformen greifen – Agenda 2030 eben. Nur: Wo genau ist das Problem? Die öffentlichen Kassen leiden nicht an explodierenden Bürgergeldausgaben, sondern an wachsender Bürokratie, hohen Subventionen und gigantischen Steuerverwerfungen. Die Wirtschaft lahmt nicht, weil Bürgergeldempfänger auf der Couch sitzen, sondern weil der Staat Unternehmen mit Regulierungen und Steuerlast erschlägt. Doch gegen diese wahren Baustellen bleibt Linnemann merkwürdig stumm.

Stattdessen wird eine simple, aber eingängige Mär bemüht: Der Bürgergeldbezieher habe am Ende mehr in der Tasche als der Malocher am Fließband oder die Verkäuferin an der Kasse. So einfach, so plakativ, so falsch. Die Realität ist komplexer, aber wen interessiert das schon im Wahlkampf? Im Zweifel reichen ein paar Modellrechnungen aus dem Rechenschieber-Labor der Boulevardpresse, um Ressentiments zu schüren. Dass man das „Problem“ mit einer simplen Maßnahme lösen könnte – nämlich einer Anhebung des Mindestlohns – wird bewusst verschwiegen. Denn das würde dort wehtun, wo die CDU traditionell ihre Wählerklientel sieht: bei Unternehmern, die günstige Arbeitskräfte bevorzugen.

Man erkennt in diesem Vorgehen ein bekanntes Muster: Lieber Sozialneid instrumentalisieren, als an die Substanz der Wirtschaftspolitik zu gehen. Lieber über angeblich faule Bürgergeldempfänger schimpfen, als über den Reformstau in Steuerrecht, Infrastruktur und Energiewende zu sprechen. Lieber alte Mythen recyceln, als neue Konzepte entwickeln. Der politische Gewinn liegt auf der Hand: Man spielt die Geringverdiener gegen die Arbeitslosen aus, die Mittelschicht gegen die Unterschicht. So entsteht das Bild eines Volkszorns, der sich gegen „Sozialschmarotzer“ richtet, anstatt gegen eine Politik, die die eigentlichen Probleme des Landes nicht anpackt.

Doch der Witz dabei ist: Die meisten Bürger, die für diese Stimmungsmache empfänglich sein sollen, gehören gar nicht zu den Mindestlöhnern. Sie gehören zur Mittelschicht, die werktags ihre Steuern und Abgaben abliefert und am Monatsende das Gefühl hat, dass von all den Milliarden im Staatshaushalt erstaunlich wenig zurückkommt – weder in Form intakter Straßen, noch in modernen Schulen oder einem funktionierenden Gesundheitssystem. Diese Mittelschicht wäre eigentlich das natürliche Klientel der CDU. Aber statt ihr Entlastung zu versprechen, hält man ihr das Schreckgespenst des Bürgergelds vor die Nase.

So wirkt Linnemanns „Agenda 2030“ wie ein Theaterstück aus der Mottenkiste: viel Pathos, wenig Substanz. Es ist ein Paradebeispiel für Symbolpolitik, die Probleme nicht löst, sondern verschiebt. Dass die AfD beim Thema Sozialkürzungen in dieselbe Kerbe schlägt, macht die Sache nicht besser – im Gegenteil: Es zeigt, wie anschlussfähig rechte Rhetorik mittlerweile in der sogenannten Mitte geworden ist.

Wenn es wirklich eine Agenda 2030 braucht, dann nicht im Stil Schröders, sondern im Sinne einer ernsthaften Zukunftspolitik: Steuer- und Abgabenreform, massive Entbürokratisierung, Investitionen in Bildung, Digitalisierung und Infrastruktur. Aber all das klingt mühsam, teuer und kompliziert – also greift man lieber auf die einfache Keule zurück. Der Bürgergeldempfänger als Sündenbock: das ist keine Agenda, das ist Wahlkampf auf Stammtischniveau.

Und so bleibt der Eindruck: Linnemann hat nicht die Zukunft im Sinn, sondern die nächste Schlagzeile. Von einer großen „Agenda 2030“ bleibt am Ende nur ein kleiner Reflex – der Reflex, nach unten zu treten.


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