Mehr Waffen, weniger Autos – ein wirtschaftspolitischer Paradigmenwechsel
In Baden-Württemberg, traditionell das Herzstück der deutschen Automobilindustrie, zeichnet sich ein tiefgreifender Strukturwandel ab. Angesichts sinkender Absatzzahlen auf zentralen Auslandsmärkten wie China und einer kriselnden Automobilbranche, wird der Ruf nach alternativen Wachstumsmotoren immer lauter – und die Antwort scheint in einem unerwarteten Sektor zu liegen: der Rüstungsindustrie.
Ein Rückzug vom Auto – notgedrungen, nicht freiwillig
Der wirtschaftliche Druck ist enorm. Große Konzerne wie Mercedes-Benz und Porsche melden Absatzrückgänge, Zulieferer wie Bosch und ZF Friedrichshafen planen Arbeitsplatzabbau. Die langjährige Erfolgsgeschichte des Autolands Baden-Württemberg gerät ins Stocken. Die Landesregierung unter Ministerpräsident Winfried Kretschmann reagiert – mit einer industriepolitischen Neuausrichtung, die viele überraschen dürfte: Statt auf den Verbrennungsmotor setzt man nun verstärkt auf Verteidigungstechnologien.
Die Devise lautet: weniger Autos, mehr Waffen. Dahinter steht die Hoffnung, dass Hochtechnologie in der Rüstungsproduktion neue Impulse für Wachstum, Innovation und Beschäftigung setzen kann.
Rüstung als Konjunkturprogramm
Rüstungsunternehmen wie Diehl Defence gelten als Blaupausen für diese neue Industriepolitik. Die Produktion hochmoderner Abwehrsysteme wie IRIS-T, das erfolgreich in der Ukraine zum Einsatz kommt, zeigt exemplarisch, welches Potenzial in der Branche steckt. Kretschmann und andere politische Stimmen betonen, dass es hierbei nicht um Aufrüstung aus Aggressionsgründen gehe, sondern um den Aufbau einer eigenständigen europäischen Verteidigungsfähigkeit – Baden-Württemberg wolle dabei eine „führende Rolle“ einnehmen.
Politisch unterstützt wird dieser Kurs auch von den Grünen im Landtag, allen voran Fraktionschef Andreas Schwarz, der die Verteidigungsindustrie als Innovationsmotor sieht. Damit verabschiedet sich die Partei spürbar von ihrem pazifistischen Erbe – eine Kehrtwende, die innenpolitisch nicht ohne Sprengkraft ist.
Transformation mit doppeltem Boden: Industriepolitische Realpolitik
In Niedersachsen zeigt sich ein ähnliches Bild: Auch dort wird die Möglichkeit geprüft, Produktionsstandorte aus der Automobilindustrie in Richtung Rüstungsproduktion umzuwandeln. Besonders im Fokus steht das VW-Werk Osnabrück, dessen Zukunft nach dem geplanten Produktionsende des T-Roc Cabrios 2027 ungewiss ist. Rheinmetall bekundet Interesse, dort künftig Militärfahrzeuge zu fertigen – eine Entscheidung steht jedoch noch aus. Klar ist: Ohne langfristige und sichere Aufträge wird kein Unternehmen Millioneninvestitionen in eine Umrüstung tätigen.
Wirtschaftspolitiker verweisen darauf, dass diese Umstellung nicht nur sicherheitspolitisch notwendig sei, sondern auch volkswirtschaftlich rentabel: Prognosen sprechen von einem zusätzlichen Wirtschaftswachstum von ein bis zwei Prozent allein durch die gestiegene Rüstungsnachfrage in Deutschland und Europa.
Neue Jobs durch alte Kompetenzen
In der Tat: Die Rüstungsindustrie verlangt ähnliche Fähigkeiten wie die Automobilbranche – von Präzisionsmechanik über Elektronik bis hin zu Softwareentwicklung für autonome Systeme. Der anstehende Verlust von schätzungsweise 200.000 Arbeitsplätzen in der Autoindustrie könnte zumindest teilweise durch neue Jobs im Rüstungssektor kompensiert werden.
Fachkräfte sollen umgeschult, Produktionslinien umgerüstet, Entwicklungsabteilungen neu ausgerichtet werden. Es entsteht der Eindruck einer strategischen Industriepolitik, die nicht primär aus Überzeugung, sondern aus wirtschaftlicher Notwendigkeit geboren wurde.
Kritik unerwünscht – oder unbequem?
Die politische Kommunikation rund um diesen Paradigmenwechsel bleibt bislang vorsichtig. Offizielle Statements werden wohlüberlegt formuliert, kritische Stimmen werden selten laut – zu groß ist offenbar der wirtschaftliche Druck, zu verlockend das Potenzial eines neuen Exportmarkts. Dennoch bleibt die Frage, ob ein industrieller Aufschwung auf Basis militärischer Produktion gesellschaftlich breit getragen werden kann – und ob Deutschland damit nicht in eine gefährliche sicherheitspolitische Abhängigkeit gerät.
Was derzeit unter dem Schlagwort „Transformation“ verkauft wird, ist in Wahrheit ein industriepolitisches Drahtseilakt: Die Rüstungsindustrie soll nicht nur Wohlstand sichern, sondern auch technologische Souveränität für Europa schaffen. Doch der Preis für diese Neuausrichtung bleibt offen – moralisch wie politisch.
Fazit: Der Satz „Mehr Waffen, weniger Autos“ bringt auf den Punkt, was sich in der deutschen Industriepolitik derzeit vollzieht: ein radikaler Kurswechsel, getragen von sicherheitspolitischen Zwängen, wirtschaftlichen Realitäten – und einem politischen Willen zur Technologieführerschaft. Ob daraus ein nachhaltiges Zukunftsmodell erwächst, wird sich erst zeigen. Sicher ist nur: Die Industrie von morgen sieht anders aus als die von gestern.