Am 6. Mai 2025 mündete ein dramatischer Sitzungstag des Deutschen Bundestags in ein Novum: Friedrich Merz erreichte erst im zweiten Wahlgang die nötige Kanzlermehrheit – und das nur, weil die Linkspartei zusammen mit Grünen und SPD einer kurzfristigen Geschäftsordnungsänderung zustimmte. Damit wurde ausgerechnet jene Partei zum Steigbügelhalter, mit der die CDU seit 2018 offiziell keinerlei Zusammenarbeit eingehen wollte.
Der Unvereinbarkeitsbeschluss von 2018
Der Beschluss war als klare Brandmauer gedacht: „Keine Koalitionen und keine ähnlichen Formen der Zusammenarbeit mit der Linkspartei.“ Mit rückblickender Ironie verwies die Union darin auf fundamentale Gegensätze zur von der Linken propagierten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Die Regel galt bis zum Tag der Kanzlerwahl als identitätsstiftende Differenzierung gegenüber beiden Rändern des Parteienspektrums.
Das Wahl-Drama im Parlament
Im ersten Wahlgang fehlten Merz 18 Stimmen – Abweichler aus den eigenen Reihen oder dem Koalitionspartner SPD machten den Triumph unmöglich. Weil die AfD eine nötige Geschäftsordnungsänderung nicht unterstützte, suchte die Unionsspitze hektisch nach Alternativen. CSU-Politiker Alexander Dobrindt nahm – als einziger in der Unionsführung mit einem direkten Draht zur Linksfraktion – mehrfach Kontakt zu Janine Wissler auf. Nach zähen Telefonaten unterschrieb schließlich auch die Linke den Änderungsantrag; die Zweidrittelmehrheit stand, der zweite Wahlgang konnte noch am selben Tag stattfinden, Merz wurde gewählt.
„Technische Vereinbarung“ oder Tabubruch?
Formell bleibt der Unvereinbarkeitsbeschluss unangetastet: Es handelte sich um eine „rein verfahrensbezogene Abstimmung“, keine inhaltliche Kooperation, betonen Generalsekretär Carsten Linnemann und Fraktionsgeschäftsführer Steffen Bilger. Doch diese juristische Spitzfindigkeit überzeugt weder politische Gegner noch alle Unionsabgeordneten. Thorsten Frei, neuer Kanzleramtschef, räumt in seltener Offenheit ein, man müsse den Beschluss „neu bewerten“.
Reaktionen der Linken
Linken-Chefin Ines Schwerdtner erklärte den Beschluss bereits „seit Dienstag Geschichte“ – und machte zugleich klar, dass ihre Fraktion künftig politisches Entgegenkommen erwarte, etwa bei der Reform der Schuldenbremse. Die Linke liest den Vorgang als Eingeständnis, dass bei den aktuellen Mehrheitsverhältnissen ohne sie „nichts geht“.
Risse in der CDU
In der Union sorgt der Vorgang für innerparteiliche Verwerfungen. Konservative Abgeordnete wie Olav Gutting sehen eine „Zusammenarbeit mit der radikalen Linken“ als unvorstellbar, während pragmatische Stimmen – etwa Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther – schon länger eine flexiblere Linie fordern. Alexander Dobrindt ließ gar durchblicken, man werde für Zweidrittelmehrheiten künftig erneut mit der Linken sprechen müssen.
Politische Kosten und Nutzenanalyse
- Kurzfristiger Nutzen: Merz konnte seinen unmittelbaren Autoritätsverlust nach dem verpatzten ersten Wahlgang begrenzen und die geplante erste Auslandsreise antreten.
- Mittelfristiger Preis: Die CDU verliert das Alleinstellungsmerkmal einer klaren Abgrenzung nach links. Jede weitere Zusammenarbeit – etwa bei Verfassungsänderungen, beim Bundeswehr-Sondervermögen oder bei der anvisierten Reform der Schuldenbremse – droht den Beschluss weiter auszuhöhlen.
- Langfristiges Risiko: Die strategische Neupositionierung könnte Stammwähler irritieren und der AfD in Ostdeutschland zusätzliche Angriffsfläche bieten, während sie zugleich der Linken staatspolitische Legitimation verschafft.
Ausblick
Mit der Wahl ist ein Präzedenzfall geschaffen. Richterwahlen für das Bundesverfassungsgericht, Grundgesetz-Änderungen oder EU-Vertragsreformen benötigen Zweidrittelmehrheiten. Wenn Union und SPD künftig weiter ohne komfortable Mehrheit regieren, wird die CDU sich entscheiden müssen: Hält sie an einer Brandmauer fest, die in der Praxis schon durchbrochen ist, oder formuliert sie ein neues Verständnis von „staatspolitischer Verantwortung“?
Fazit
Friedrich Merz hat seine Kanzlerschaft mit politischem Kredit bezahlt, den er sich bei einer Partei aufnehmen musste, die die CDU acht Jahre lang zum Tabu erklärt hatte. Ob dieser Kredit als einmalige Überziehungssumme verbucht wird oder zum Dauer-Dispositionsrahmen wächst, entscheidet sich in den kommenden Monaten – bei jeder Abstimmung, die mehr als einfache Mehrheiten verlangt. Für die Union steht damit mehr auf dem Spiel als eine Geschäftsordnungsänderung: Es geht um die Glaubwürdigkeit ihres Selbstverständnisses als bürgerliche Mittepartei.