Die Berliner Mindestlohnkommission hat am Freitagmorgen einstimmig beschlossen, die gesetzliche Lohnuntergrenze in zwei Stufen anzuheben: auf 13,90 Euro zum 1. Januar 2026 und auf 14,60 Euro zum 1. Januar 2027. Derzeit liegt der Mindestlohn bei 12,82 Euro.
Ein seltener Gleichklang – nach zähen Runden
Kommissionsvorsitzende Christiane Schönefeld sprach von einem „tragfähigen Kompromiss“, der trotz „harter Verhandlungen“ die Balance zwischen Beschäftigten- und Unternehmensinteressen wahre. DGB-Vertreter Stefan Körzell bestätigte den schwierigen Prozess, während BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter den „immensen politischen Druck“ kritisierte, der auf das Gremium ausgeübt worden sei. Gleichwohl votierten Arbeitgeber- und Gewerkschaftsseite erstmals seit Jahren ohne Gegenstimme.
Politischer Schatten: Die 15-Euro-Marke
Die SPD hatte im Koalitionsvertrag mit CDU/CSU festgehalten, ein Entgeltniveau von 60 Prozent des Bruttomedianlohns anzustreben – rechnerisch etwa 15 Euro bis 2026. Parteivertreter drohten im Frühjahr mit einem Gesetzeseingriff, sollte die Kommission diese Schwelle verfehlen. Nach dem aktuellen Beschluss zeigt sich Generalsekretär Tim Klüßendorf zwar „gesprächsbereit“ – ein Bundestagsverfahren schließt er vorerst aus. Kanzler Friedrich Merz (CDU) hatte bereits im April betont, es gebe „keinen gesetzlichen Automatismus“ für 15 Euro.
Ökonomische Gemengelage
Die Entscheidung fällt in eine Phase schwacher Konjunktur. Das DIW erwartet für 2025 nur 0,3 Prozent BIP-Wachstum, traut der Anhebung jedoch einen spürbaren Konsumschub zu. Das ifo-Frühjahrsgutachten warnt dagegen vor anhaltender Unsicherheit und niedriger Produktivitätsdynamik. Mit 14,60 Euro läge Deutschlands Mindestlohn 2027 trotzdem nur knapp oberhalb der EU-Empfehlung von 60 Prozent des Medianlohns – eine Schwelle, die Brüssel in der Richtlinie (EU) 2022/2041 ausdrücklich als Messlatte nennt.
Armutsgrenze rückt näher – doch reicht das?
Nach Zahlen des Statistischen Bundesamts liegt die Armutsgefährdungsschwelle für Alleinlebende derzeit bei 1 378 Euro netto im Monat. Bei einer Vollzeitstelle (168 Std.) entspräche der neue Stundenlohn von 14,60 Euro brutto etwa 1 680 Euro netto – je nach Steuerklasse. Damit käme ein Mindestlohnempfänger zwar oberhalb der Armutsgrenze an, hätte aber kaum Spielraum für Rücklagen. Sozialverbände verweisen zudem darauf, dass viele Niedriglohnbeschäftigte nur Teilzeit arbeiten.
Historischer Kontext
Der gesetzliche Mindestlohn startete 2015 bei 8,50 Euro, stieg Anfang 2025 auf 12,82 Euro und wurde zuletzt 2022 einmalig per Gesetz auf 12 Euro angehoben. Dass die Politik damals ausnahmsweise die Kommission überging, gilt vielen Ökonomen als Präzedenzfall – und nährt die Spekulation, die SPD könnte erneut den Parlamentsweg wählen, falls das 15-Euro-Ziel in zwei Jahren unerreichbar scheint.
Kritische Würdigung
Der neue Fahrplan verschafft Betrieben Planungssicherheit und bleibt, gemessen an Tariflohnentwicklungen, im Rahmen der bisherigen Methodik. Gleichwohl öffnet er eine politische Flanke: Die Lücke von 40 Cent zur Koalitionsmarke 2026 erscheint klein, symbolisch ist sie groß. Sollte die Inflation wieder anziehen oder das Wirtschaftswachstum hinter den Erwartungen zurückbleiben, bekommt die Forderung nach einem rascheren Aufwuchs neues Gewicht. Umgekehrt droht bei einer konjunkturellen Abschwächung die Debatte über Arbeitsplatzverluste vor allem in kleinteiligem Gewerbe und Gastronomie.
Die Kommission hat in wirtschaftlich heiklem Umfeld eine vertretbare Lösung gefunden. Ob sie Bestand hat, entscheidet sich jedoch weniger in Konferenzräumen als in den Haushaltsplänen klammer Verbraucher und in den Bilanzen energiegeplagter Mittelständler. Der Streit um den „richtigen“ Mindestlohn ist mit dem heutigen Beschluss keineswegs beendet – er beginnt von Neuem, diesmal mit 14,60 Euro als Ausgangslinie.