Von einem Land im Umbruch – zur Frage militärischer Pflicht in Zeiten strategischer Unsicherheit
Deutschland steht an einem sicherheitspolitischen Wendepunkt. Die seit 2011 ausgesetzte Wehrpflicht soll nach dem Willen des Bundesverteidigungsministers Boris Pistorius zumindest in modifizierter Form reaktiviert werden. In einer Zeit zunehmender geopolitischer Spannungen, wachsender Abhängigkeit von den USA und dramatischer Personalengpässe in der Bundeswehr wird die Wehrpflicht wieder als Instrument zur Sicherung der Wehrfähigkeit und gesellschaftlichen Resilienz betrachtet. Doch die Rückkehr zur staatsbürgerlichen Pflicht birgt nicht nur organisatorische und rechtliche Herausforderungen – sie wird zum Lackmustest für das republikanische Selbstverständnis einer fragmentierten Gesellschaft.
Ein hybrides Modell als neue Wehrpflicht
Der Plan, den Pistorius im Juni 2024 vorgestellt hat, orientiert sich am schwedischen Modell: Eine verpflichtende Erfassung aller 18-jährigen deutschen Männer, ein Fragebogen zur Ermittlung der Bereitschaft und Eignung, gefolgt von einer zielgerichteten Musterung derjenigen, die für den Dienst in der Bundeswehr infrage kommen. Frauen sollen sich freiwillig beteiligen können. Die Dienstzeit beträgt zunächst sechs Monate, mit Option auf Verlängerung. Eingesetzt werden sollen die jungen Rekrutierten vor allem im Heimatschutz, bei Logistik, Infrastruktur, Sanitätsdiensten oder im Reservistenwesen.
Rein juristisch ist die Wehrpflicht nie abgeschafft worden – sie wurde 2011 lediglich durch Bundestagsbeschluss ausgesetzt. Eine Reaktivierung ist also rechtlich mit einfacher Mehrheit wieder möglich. Politisch ist sie allerdings hochumstritten.
Union und SPD: Ein tiefer Dissens
Während die CDU/CSU auf eine zügige Reaktivierung und möglichst breite Dienstverpflichtung drängt, betont die SPD die Freiwilligkeit und warnt vor organisatorischer Überforderung: marode Kasernen, fehlendes Ausbildungspersonal, mangelhafte Ausrüstung. Pistorius versucht einen Spagat: Er spricht von einer „Pflicht mit Augenmaß“, will aber auch gesetzliche Klauseln verankern, die eine vollständige Reaktivierung der klassischen Wehrpflicht ermöglichen – falls die Zahl der Freiwilligen nicht reicht. Der entsprechende Gesetzesentwurf soll im Sommer 2025 ins Kabinett eingebracht und bis Jahresende beschlossen werden.
Der demografische Ernstfall
Faktisch fehlt es der Bundeswehr an Personal in nahezu allen Bereichen. Der angestrebte Soll-Stand von 203.000 Soldaten wurde nie erreicht. Im Gegenteil: Aktuell fehlen rund 30.000 Mann – Tendenz steigend. Die Personalnot wird zum strukturellen Risiko. Ein reiner Freiwilligendienst, so die Kritik aus sicherheitspolitischen Kreisen, könne dieses Defizit nicht ausgleichen, schon gar nicht im Krisenfall. Die neue Wehrdienststruktur zielt daher auch auf den Aufbau eines verlässlichen Reservistenpools, der im Ernstfall schnell mobilisierbar ist.
Doch mit dieser strukturellen Frage stellt sich ein viel grundlegenderes Problem: Wer soll überhaupt noch für Deutschland dienen?
Die Gerechtigkeits- und Loyalitätsfrage
Die geplante Erfassung betrifft nur deutsche Staatsbürger männlichen Geschlechts. Millionen junger Männer, die dauerhaft in Deutschland leben – darunter Türken, Syrer, Afghanen, Iraker oder Ukrainer – sind nicht betroffen, sofern sie nicht eingebürgert wurden. Damit entsteht eine brisante Gerechtigkeitslücke: Der Bürger wird in die Pflicht genommen, der bloße Bewohner bleibt ausgenommen – obwohl beide von denselben Freiheitsrechten, sozialen Leistungen und Schutzversprechen profitieren.
Noch schwerer wiegt die sicherheitspolitische Dimension: In Zeiten hybrider Bedrohungslagen und innergesellschaftlicher Polarisierung kann nicht länger ignoriert werden, dass ein erheblicher Teil der männlichen Bevölkerung in Deutschland sich nicht zur Verteidigung der Bundesrepublik verpflichtet fühlt – sei es aus ideologischer, religiöser oder kultureller Distanz. Eine Wehrstruktur, die sich ausschließlich auf den deutschen Staatsbürger stützt, ohne zugleich Anforderungen an die staatsbürgerliche Loyalität aller dauerhaft hier Lebenden zu stellen, bleibt strategisch angreifbar.
Staatsbürgerschaft als Verpflichtung – nicht nur als Anspruch
Die Wehrpflichtdebatte führt daher zwingend zu einer grundsätzlichen Neubewertung dessen, was es bedeutet, Bürger dieses Landes zu sein. Es reicht nicht, deutsche Pässe zu verteilen und auf Integration zu hoffen. Die Einbürgerung muss an klare Bekenntnisse und Pflichten gebunden sein: Wer Staatsbürger werden will, muss im Ernstfall bereit sein, dieses Gemeinwesen mitzutragen – notfalls auch mit Uniform, zumindest aber mit zivilgesellschaftlichem Einsatz. Die Wehrpflicht darf in diesem Sinne auch als Filterinstrument republikanischer Loyalität begriffen werden.
Fazit: Notwendigkeit mit Sprengkraft
Die Rückkehr zur Wehrpflicht ist keine sentimentale Rückbesinnung auf vergangene Zeiten, sondern ein sicherheitspolitisches Gebot der Gegenwart. Doch sie fordert nicht nur Strukturen und Budgets heraus, sondern die gesellschaftliche Substanz selbst. Eine wehrfähige Republik muss auf dem Prinzip beruhen, dass Rechte Pflichten zur Folge haben – für alle, die in ihr leben wollen. Pistorius’ Initiative mag der erste Schritt sein. Die eigentliche Debatte beginnt jedoch erst, wenn die Gesellschaft gezwungen ist zu beantworten, wer in letzter Instanz für dieses Land einstehen will – und wer nicht.