Frank-Walter Steinmeier wollte am 9. November mahnen, nicht provozieren. In seiner Rede im Schloss Bellevue erinnerte der Bundespräsident an die Brüche der deutschen Geschichte – 1918, 1938, 1989 – und schlug den Bogen in die Gegenwart. Er sprach von Licht und Schatten, von Abgründen und Verantwortung, von der Gefahr für die Demokratie, die heute wieder spürbar sei. Seine Worte waren eindringlich und aufrüttelnd. Doch die Wirkung blieb zwiespältig: Viele fühlten sich angesprochen, andere angeklagt.
Steinmeier warnte vor den Feinden der Demokratie, vor Hetze und Spaltung, vor Kräften, die „Brandmauern niederreißen“. Er nannte keine Namen, doch sein Fokus auf den Rechtsextremismus ließ kaum Zweifel, an wen sich die Warnung richtete. Juristisch ist das unproblematisch: Der Bundespräsident darf und soll vor Extremismus warnen. Politisch aber ist es heikel, wenn eine Mahnung als Parteinahme verstanden wird. Denn in einer polarisierten Gesellschaft genügt oft schon der richtige Ton, um die falschen Fronten zu verhärten.
Der Präsident sprach im Geist der wehrhaften Demokratie – doch seine Rede zeigte auch deren Dilemma. Wenn Warnungen vor Rechtsradikalismus so eindeutig sind, dass sie als Angriff auf eine bestimmte Partei gelesen werden, geraten die Grenzen zwischen moralischer Haltung und politischer Bewertung ins Wanken. So entstand der Eindruck, Steinmeier urteile, statt zu integrieren. Dass Linksextremismus oder religiöser Fanatismus in seiner Rede nur am Rand vorkamen, verstärkte dieses Ungleichgewicht – auch wenn die Bedrohungslage von rechts zweifellos die gravierendste bleibt.
Die Botschaft, Demokratie müsse sich behaupten, ist richtig. Aber die Frage bleibt: Wie erreicht man jene Bürger, die sich von Politik und Medien längst entfremdet haben? Steinmeier ruft zur Zuversicht auf, appelliert an Zivilcourage und Bürgersinn. Doch wer wirtschaftlich unter Druck steht oder sich im öffentlichen Diskurs pauschal verurteilt fühlt, hört darin leicht den erhobenen Zeigefinger. Appelle allein reichen nicht, wenn Menschen das Vertrauen in politische Repräsentation verloren haben.
Auch die Mahnung zur Verantwortung im digitalen Raum bleibt abstrakt. Steinmeier fordert Regeln gegen Hass und Manipulation, wirkt dabei aber wie ein Beobachter, nicht wie ein Akteur, der die Dynamik sozialer Medien wirklich versteht. Die Demokratie entscheidet sich längst online – dort, wo moralische Rhetorik wenig Resonanz hat, weil Emotion und Empörung schneller wirken als Nachdenklichkeit.
Am Ende bleibt ein widersprüchlicher Eindruck: Steinmeier spricht mit Mut und Überzeugung, doch seine Worte erreichen nicht alle. Er will Zusammenhalt stiften, provoziert aber neue Bruchlinien. Das ist kein Amtsmissbrauch – es ist das Risiko moralischer Politik in einer gespaltenen Gesellschaft. Der Präsident testet die Grenzen seiner Autorität, und das darf er. Doch wer einen neuen gesellschaftlichen Konsens sucht, muss mehr bieten als Warnungen. Demokratie braucht nicht nur Mahnung, sondern auch Vertrauen – und Brücken, nicht nur Mauern.
